Das Buch des Vergessens
nach dem Angebot war das Bild, das ›Ikon‹, offensichtlich noch fast vollständig zugänglich. Dies war allerdings nur der Fall, wenn Sperling sofort, innerhalb einer Viertelsekunde, angab, welche Reihe reproduziert werden soll. Wenn er auch nur etwas länger wartete, war das Bild ausgelöscht. Fragte er nach der Wiedergabe einer Reihe auch noch nach einer oder zwei anderen Reihen, stand die Information nicht mehr zur Verfügung: In den paar Sekunden, die notwendig waren, um die erste Reihe zu reproduzieren, waren die anderen schon wieder verschwunden.
Dieses schnelle Löschen geschieht auch in den anderen sensorischen Registern, obwohl das Gedächtnis für Geräusche (die ›Echobox‹) die Reize etwas länger festhält, zwei bis vier Sekunden. Das Festhalten von Reizen ist für eine ungestörte Verarbeitung von Sinnesinformationen notwendig. Das kurze ›Stehenbleiben‹ des Bildes sorgt dafür, dass uns unsere Wahrnehmung nicht bei jedem Lidschlag immer wieder entfällt. Das lässt uns die 24 einzelnen Bilder pro Sekunde, aus denen ein Film in Wirklichkeit besteht, als fließende Bewegung sehen. Aber ebenso unverzichtbar ist das Löschen. Würde die Information auch nur ein wenig länger abgespeichert, würde sie mit den nachfolgenden Reizen interferieren. Das Ausbleiben des Löschens bzw. des Vergessens würde kein besseres Gedächtnis bewirken, sondern für zunehmende Verwirrung sorgen.
Versuchen unsere Sinnesorgane, uns etwas zu verdeutlichen? Das blitzschnelle Löschen ist das Gegenteil dessen, was Metaphern wie das Archiv oder der Computer als Ideal suggerieren: Im sensorischen Gedächtnis ist das Vergessen kein Mangel, sondern Voraussetzung seiner Funktion. Die Frage ist, ob das Vergessen in anderen Gedächtnisformen eine ebensolch zentrale Funktion hat? Wie können wir diese Frage am treffendsten stellen, vielleicht so: Wodurch vergessen wir und warum vergessen wir? Sind wir unserer neurologischen und physiologischen Verdrahtung ausgeliefert oder haben wir dabei auch ein Wörtchen mitzureden? Wie hilfreich Gedächtnismetaphern auch sein mögen – sie führen die Vorstellung zu unserem Gedächtnis weg vom Vergessen. Vielleicht ist dies einer der Gründe, weswegen Theorien über Vergessen häufig in negativen Unterstellungen stecken bleiben:
Das beginnt schon auf der sprachlichen Ebene. Die Wortspiele, die sich rund um das Erinnern entwickelt haben, sind erfinderisch und anschaulich. Die Sprache des Vergessens wirkt dagegen eher dürftig.
Man betrachte beispielsweise nur einmal den Kontrast zwischen den Metaphern für das Gedächtnis, dem es gelingt, unsere Erfahrungen zu konservieren, und den Metaphern für das Vergessen. Die erste Kategorie hat Format: Schrift ist vielleicht die wichtigste Erfindung in unserer Kulturgeschichte. Archive und Bibliotheken sind angesehene Institutionen. Das Gedächtnis wurde mit Abteien, Theatern und Palästen verglichen. Die Psychologie wählte immer wieder die fortschrittlichsten und angesehensten Speichertechnologien als Metaphern für das Gedächtnis. Wer dagegen die Metaphern für das Vergessen neben die für das Erinnern stellt – das Sieb neben die Fotografie –, hat ein rührendes, aber realistisches Bild vom Unterschied in der Bewertung, die in den Sprachbildern zum Ausdruck kommt. Zudem sind Metaphern für Vergessen oft nichts anderes als schwerfällig umgedrehte Gedächtnismetaphern: Wenn wir etwas vergessen haben, ist die Tinte verblichen, wurde Text vom Pergament gestrichen, hat jemand auf delete gedrückt oder befindet sich die Information nicht mehr auf der Festplatte. Vergessen ist nie viel mehr gewesen als löschen, streichen oder einfach verschwinden.
Die Umkehrung der Metapher hat die Idee genährt, Erinnern und Vergessen seien konträr verlaufende Prozesse, die sich gegenseitig ausschließen. Woran sich jemand erinnert, das ist offensichtlich nicht vergessen, und was er vergessen hat, daran wird er sich nicht erinnern können. Vergessen ist das Minuszeichen vor der Erinnerung. Doch hier werden wir von unseren eigenen Metaphern verhext. In Wirklichkeit gehört das Vergessen zur Erinnerung wieHefe zum Teig. Unsere Erinnerungen an ›erste Male‹ allerlei Arten erinnern uns an all die vergessenen Male, die darauf folgten. Die Handvoll Träume, an die wir uns erinnern, verweist auf Hunderte, an die wir uns beim Aufwachen vielleicht noch erinnerten, die sich aber schnell verflüchtigten. Sogar Menschen mit einem guten Gedächtnis für Gesichter haben
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