Das Buch des Vergessens
keinen Traum, kein Gefühl, aber im Laufe des Tages geschieht etwas, wodurch einem ein Fragment des angeblich vergessenen Traums plötzlich wieder einfällt. Aber was man beim Rückblick auf der Türschwelle auch sieht – das meiste verfliegt, und die Frage ist: Warum ist das so? Warum ist es so schwierig, Träume festzuhalten? Warum haben wir so ein schlechtes Gedächtnis für Träume?
Eine amerikanische Psychologin, Mary Calkins, veröffentlichte 1893 die ›Statistics of dreams‹, eine numerische Analyse dessen, was sie und ihr Mann innerhalb von insgesamt sechs Wochen geträumthatten. Beide hatten dazu Kerzen, Streichhölzer, Bleistift und Papier auf dem Nachttisch bereitgelegt. Aber Träume sind so flüchtig, schrieb Calkins, dass schon allein der Griff nach den Streichhölzern sie verschwinden lassen konnte, noch mit ausgestrecktem Arm habe sie feststellen müssen, dass der Traum wieder weg war. So ließ sie sich zurücksinken »im quälenden Bewusstsein, eine interessante Traumerfahrung erlebt zu haben, die nicht die geringste Erinnerung zurückgelassen hatte«.
Anmerkung
Auch ausgesprochen lebendige Träume lösten sich im Nichts auf:
Die Erfassung eines Traums aufzuschieben, der so lebendig ist, dass man davon überzeugt ist, ihn bis zum Morgen zu behalten, ist meist ein fataler Irrtum. Während der Versuchsphase hatte einer der Wissenschaftler einen Traum, der offensichtlich von bemerkenswerter Bedeutung war, vollständig im Dunkeln aufgeschrieben, um danach mit dem zufriedenen Gefühl wieder einzuschlummern, seine wissenschaftliche Pflicht angemessen erfüllt zu haben. Am nächsten Morgen entdeckten wir, dass der Forscher einen ungespitzten Bleistift benutzt hatte, sodass er nur ein leeres Blatt Papier hatte und nicht die geringste Erinnerung an den Traum, an den er sich kurz nach dem nächtlichen Wachwerden noch vollständig erinnern konnte.
Anmerkung
In dem Arm, der sich nach den Streichhölzern streckt und unverrichteter Dinge wieder herabsinkt, ist das Problem zusammengefasst.
Einige Bemerkungen vorab: Träume zu untersuchen ist ein methodologischer Albtraum – der Vergleich liegt nahe. Eines der Probleme dabei ist, dass Ergebnisse von Traumstudien je nach Untersuchungsmethode variieren. Zu der Zeit, als man annahm, schnelle Augenbewegungen seien ein Beweis für Traumaktivität und man könne ebenso gut Tiere als Forschungsobjekte nehmen, sofern sie schnelle Augenbewegungen machten, gab es eine Reihe von Experimenten zur Überprüfung der Theorie, ob das Gedächtnis des Tieres auf Dauer Schaden nimmt, wenn man es am Träumen hindert. DieVersuchstiere, Ratten, wurden auf eine Art schwimmende Scheibe gesetzt. Im Tiefschlaf lagen sie reglos, und es passierte nichts. Aber während des REM – Schlafs waren sie etwas unruhiger. Sie rutschten ins kalte Wasser und waren hellwach. Nach ein paar Nächten ohne REM – Schlaf stellte sich heraus, dass sie eine gelernte Aufgabe, eine bestimmte Strecke durch einen Irrgarten zu laufen, tatsächlich schneller wieder vergaßen. In einem anderen Experiment wurde dieselbe Hypothese über REM – Schlaf und Gedächtnis getestet, auch mit Ratten, aber jetzt mit einem anderen Verfahren. Sobald die schnellen Augenbewegungen auftraten, wurden diese Ratten durch kurzes Schütteln vorsichtig geweckt, etwa so, wie ein Kind sein Meerschweinchen weckt. Sie hatten keinerlei Schwierigkeiten, eine Irrgarten-Aufgabe zu lernen. Die Lernprobleme entstanden offenbar nicht durch das Vorenthalten des REM – Schlafs, sondern durch den Stress, dass sie ins Wasser rutschten. Die Bedingungen des Experiments bestimmten die Schlussfolgerungen über Träume und Gedächtnis.
Eine zweite Schwierigkeit ist, dass es keinen direkten Zugang zum Traum eines anderen gibt. Der persönliche Zugang zum eigenen Traum ist ja schon durch Hindernisse verstellt, die nicht zu umgehen sind. Das Messbare an Träumen ist das Verhalten des Träumenden, wie die Augenbewegungen während des Träumens, und selbst das ist eine indirekte Größe, wie sich noch herausstellen wird. Der Forscher ist vom Bericht des Träumenden abhängig, und dem Träumenden selbst ist nur allzu sehr bewusst, dass sein Bericht nicht mit seinem Traum übereinstimmt. Traumforschung ist das Gebiet indirekter Messungen, abgeleiteter Kenntnisse und Vermutungen schlechthin. Hier sind keine absoluten Schlussfolgerungen und entscheidenden Antworten zu erwarten. Nicht nur der Träumende, auch der Traumforscher selbst irrt durch dunkle
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