Das Buch des Vergessens
Hamburg war. Während des Träumens wundern wir uns wirklich über gar nichts. Der Zusammenhang zwischen der Kuriosität vieler Träume und der Tatsache, dass man sie behält, ist also einigermaßen unbestimmt.
Gerade dass es allerlei enge Beziehungen zwischen Traum und Gedächtnis zu geben scheint, macht das Vergessen von Träumen so rätselhaft. Allein schon der ›Tagesrest‹, dieses eine Bruchstück des Tages, das nachts im Traum zurückkehrt, suggeriert, dass sich Träume einen Teil ihres Materials beim Gedächtnis leihen. Es gibt sogar Beispiele von Träumen, die zu beweisen scheinen, dass der Träumende Zugang zu mehr Erinnerungen hat als während seines wachen Daseins. Dieses Phänomen ist als Hypermnesie bekannt; es ist, als hielte das Gedächtnis Träumenden Türen offen, die tagsüber geschlossen bleiben. Freud – da ist er schon – erzählt in Die Traumdeutung den Traum des belgischen Philosophen und Psychologen Joseph Delboeuf nach.
Anmerkung
Delboeuf träumt, dass er über seinen verschneiten Hof geht und zwei halb erstarrte Eidechsen findet. Er hebt sie hoch, wärmt sie und setzt sie in einen Mauerspalt. Er pflückt ein paar Blätter von einem Farn und streckt sie ihnen hin. Im Traum weiß er den Namen des Farns: asplenium ruta muralis. Eine Weile danach sieht er zwei weitere Eidechsen, die sich an den Blättern gütlich tun wollen, und als er sich umschaut, sieht er eine ganze Kolonne von Eidechsen, so viele, dass sie den Weg verdecken, alle auf dem Weg zum Mauerspalt.
Delboeuf wusste kaum etwas von Pflanzen. Aber er ist neugierig auf den Namen, den er träumte, und zu seinem Erstaunen existiert er wirklich: asplenium ruta muraria – in seinem Traum hatte er nur muraria ein wenig zu muralis entstellt. Es ist ihm ein Rätsel, wie der Name einer Pflanze, von der er noch nie gehört hatte, in seinem Traum auftauchen konnte.
Sechzehn Jahre später besucht er einen Freund und blättert durch ein Herbarium. Dort findet er den Farn aus seinem Traum wieder. Der lateinische Name steht darunter – in seiner eigenen Handschrift. Und erst da erinnert er sich wieder, dass ihn die Schwester dieses Freundes 1860 mit eben diesem Herbarium besuchte, das als Geschenk für ihren Bruder gedacht war, und dass er damals angeboten hatte, gemeinsam mit einem Botaniker den lateinischen Namen zu jedem Blatt zu notieren. Zwei Jahre vor seinem Traum hatte er schon einmal voll ausgeschrieben: asplenium ruta muraria.
Das ist noch nicht das Ende der Geschichte. Eines Tages betrachtete er alte Jahrgänge einer illustrierten Zeitschrift, die er abonniert hatte, und sah auf einem Umschlag aus dem Jahr 1861 auch die Eidechsenkolonne aus seinem Traum wieder. Erst nach achtzehn Jahren konnte Delboeuf die richtige Chronologie rekonstruieren: 1860 notiert er den lateinischen Namen im Herbarium eines Freundes, 1861 sieht er einen Umschlag mit der Eidechsenkolonne, 1862 hat er den Eidechsentraum, 1877 sieht er die Eidechsenkolonne auf dem Umschlag noch einmal, und 1878 begegnet ihm das Herbarium wieder.
Delboeuf veröffentlichte seinen Traum 1885 in einer Monografie über Träume, aber der Traum selbst stammte aus dem Jahr 1862.
Anmerkung
Auffällig ist, dass der Traum Elemente enthielt, die damals gar nicht so weit in der Vergangenheit lagen, ein oder zwei Jahre, und dass der diktierte lateinische Name sogar aufgeschrieben worden war. Letzteres könnte man als einen Fall von ›dual coding‹ bezeichnen, eine zweifache Spur, auditiv und visuell, die er eigentlich hätte besser behalten müssen. Dennoch konnte er sich weder an das Wort noch an dessen Aufschreiben erinnern. An den Traum dagegen, flüchtig wie fast alle Träume, konnte er sich sehr wohl noch sechzehn Jahre später erinnern. Wenn sich dies alles genau so abgespielt hat, ist das ein charakteristisches Beispiel für Hypermnesie: Der Träumende erinnert sich an etwas, das seinem wachen Bewusstsein unzugänglich ist. Delboeuf – nebenbei bemerkt – starb 1896, vier Jahre vor Erscheinen der Traumdeutung, er hat nicht mehr lesen können, dass Freud seinen Traum als unbewussten Widerstand gegen Kastration deutete. Denn Eidechsen wächst der Schwanz ja wieder nach, wenn er abgerissen wird.
Freud und andere Traumforscher haben eine ganze Reihe von Hypermnesie-Beispielen dieser Art gesammelt. Havelock Ellis versuchte tagsüber vergeblich auf den Namen eines schweren indischen Duftstoffs zu kommen. Beim Einschlafen fällt ihm der Name plötzlich ein: ›Patchouli‹.
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