Das Buch des Vergessens
bereitgestellt werden, intakt sein und funktionieren, neurologisch und kognitiv.
Dieser Prozess kennt Stadien und Überleitungen. Während der ersten zehn, fünfzehn Jahre gibt es einen schnellen Wechsel kritischer Zeiträume und Übergänge. Kein einziges Stadium jedoch wird noch einmal so eingreifend sein wie das, in dem wir zu einem ›sprachlichen‹ Wesen werden. Ab dem Moment bekommen Erinnerungen allmählich einen anderen Charakter, häufig verbunden mit einem inneren Monolog und einer sprachlichen Auseinandersetzung. Dieser Übergang hat einen zweifachen Effekt in entgegengesetzten Richtungen: Er eröffnet neue Möglichkeiten für die Bildung und Speicherung von Erinnerung, zugleich beginnt er den Zugang zu früheren Erinnerungen zu erschweren. Bei der Entwicklung von Skripten passiert das Gleiche: Sie können nur entstehen, weil das Gedächtnis gleichartige Erinnerungen eine Zeit lang festhalten kann, aber danach werden sie von denselben Skripten absorbiert und werden unsichtbar. Übergänge und Stadien wie diese wird es immer geben, auch wenn die Pausen dazwischen zunehmen. Der Noura, der das Frauenbadehaus verlassen muss, wird durch die erwachte Sexualität neue Erfahrungen machen, aber als Zwölfjähriger schon nicht mehr die Erinnerungen des Achtjährigen aufrufen können. In diesem frühen Vergessen sind all jene Mechanismen eingebettet, die uns späterhin im Leben noch so vieles vergessen lassen werden.
Julian (2) und sein Großvater Ernst (65)
Aber wie auch immer die Erklärung für das Vergessen sein mag, die Konsequenzen können einen mit tiefer Melancholie erfüllen. Der Anfang kommt zu spät. Man sieht, wie der zweijährige Sohn mit dem Opa spielt, man weiß, dass das, woran er sich später erinnern wird, frühstens in einem oder anderthalb Jahren festgehalten wird, und man stellt grimmig fest, was kleinen Kindern fehlt: ein Schalter mit »rec.« und einem roten Lämpchen, das beruhigend anzeigt, dass dieses Kinderhirn gerade etwas aufnimmt.
Die Evolution hatte andere Pläne für das Gedächtnis. Es soll uns Unannehmlichkeiten ersparen und hat daher seine eigenen Prioritäten. Es verewigt in ersten Erinnerungen keine spielenden Opas, sondern einen Großvater, der einem einen Klaps hinter die Ohren gibt, wenn man ihn duzt; keinen Spaziergang durch Klatschmohn, sondern heiße Bügeleisen, Glasscherben, böse Hunde; keine vorlesenden Mütter, sondern dunkle Schränke mit einer Tür, die ins Schloss gefallen ist; keine Fahrradtouren ohne Unfälle, sondern dieses eine Mal, als man sich den Fuß in den Speichen klemmte – und es macht dies alles auch noch zu unserem eigenen Besten. Das Gedächtnis hört nicht auf seinen Besitzer, sondern seinen Gestalter.
Wir können schon unser eigenes Gedächtnis nicht kommandieren, von dem eines anderen ganz zu schweigen. Und das gelingt erst recht nicht, wenn dieses Gedächtnis noch kaum in Gang gekommen ist. Diese Ohnmacht gegenüber dem noch zarten Gedächtnis, unserem eigenen oder dem unserer Kinder, ist vielleicht am schönsten in der ersten Erinnerung der Malerin Arja van den Berg ausgedrückt. Als sie etwa drei Jahre alt war, sah ihre Mutter sie einmal sehr eindringlich an und sagte: »Daran musst du dich immer erinnern!«
Anmerkung
Und das ist das Einzige, an das sie sich erinnert.
Warum wir Träume vergessen
There’s no time to lose, I heard her say
Catch your dreams before they slip away
Anmerkung
Wenn wir schlafen, schrieb der englische Psychiater Havelock Ellis vor einhundert Jahren, betreten wir ein altes und dunkles Haus. Wir irren durch die Räume, steigen Treppen hinauf, zögern auf einem Absatz. Gegen Morgen verlassen wir dieses Haus wieder. Auf der Schwelle schauen wir noch kurz über die Schulter und erhaschen im eindringenden Morgenlicht gerade noch einen schwachen Abglanz der Zimmer, in denen wir die Nacht verbracht haben. Dann schließt sich die Tür hinter uns, und ein paar Stunden später sind auch die letzten bruchstückhaften Erinnerungen an den Traum gelöscht.
Anmerkung
So fühlt es sich an. Man wird wach und hat noch für einen Moment Zugang zu Traumfetzen. Aber schon während man versucht, sich den Traum schärfer vor Augen zu holen, merkt man, wie sich auch diese Fetzen verflüchtigen. Manchmal ist noch weniger da. Man erwacht und kann den Eindruck nicht abschütteln, geträumt zu haben, die Stimmung des Traums ist greifbar, man weiß nur nicht mehr, was man geträumt hat. Oder man erinnert sich morgens an gar nichts mehr,
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