Das Buch des Vergessens
wie ein Eis aussieht, Wissen, dass Mutter nicht schwindelt. Erst wenn man etwas davon Abweichendes erlebt, wird man sich später daran erinnern, möglicherweise auch dauerhaft. Um etwas zu behalten, muss man zunächst sehr viel vergessen haben. Das ist einfach so. Damit vergehen die ersten drei, vier Jahre unseres Lebens.
Aber weißt du das denn nicht mehr?
Die erste Erinnerung von Charles Darwin stammt aus der Zeit vor seinem vierten Geburtstag. Er saß im Esszimmer auf dem Schoß seiner Schwester, die eine Apfelsine für ihn schälte. In dem Moment ging eine Kuh am Fenster vorbei. Charles erschreckte sich so, dass er aufsprang und sich dabei aus Versehen am Schälmesser schnitt. Die Narbe war noch bis an sein Lebensende zu sehen. Darwin war davon überzeugt, dass die Erinnerung echt war und nicht, wie so oft bei dieser Art von Erinnerungen, auf eine Geschichte zurückzuführen, die in der Familie die Runde machte. Er gab auch einen Grund dafür an: »Ich erinnere mich ganz deutlich, in welche Richtung die Kuh ging, was mir vermutlich nicht erzählt worden war.«
Anmerkung
Auch die ersten Erinnerungen in der Sammlung Scheepmaker sind oft von Argumenten begleitet, warum es sich ganz bestimmt um eine echte Erinnerung handelt: In Erzählungen kommen keine Beschreibungen von Gerüchen vor, vom Geschmack eines Bissens Sand gibt eskeine Fotos, der Erzähler sah oder tat etwas, was niemand gesehen hat. Dieses Bedürfnis, der Erinnerung eine gewisse Authentizität zu geben, verweist auf die Skepsis, mit der die Umwelt meist auf frühe Erinnerungen reagiert. Was kann – die unterschiedlichen Erklärungen zum Vergessen im Hinterkopf – über die Verlässlichkeit von Erinnerungen gesagt werden?
Zuallererst Folgendes: Die Erforschung dieses Problems ist so verzwickt, dass sie ans Unmögliche grenzt. Dass der Erzähler etwas tat, was niemand sah, und ihm das später auch nicht erzählt worden sein kann, trägt vielleicht zu seinem subjektiven Gefühl von Sicherheit bei, impliziert jedoch leider auch die Abwesenheit von Zeugen, die das Ereignis verifizieren könnten. Erste Erinnerungen betreffen selten etwas, das zu registrieren Dritten der Mühe wert scheint. Nachbarkinder, die einem das Spielzeug wegnahmen, die erste Banane, ein Stückchen Haut, das in den Reißverschluss geriet, oder versehentlich auf dem Dachboden eingeschlossen worden zu sein, sind keine Ereignisse, die irgendwo gedruckt stehen. So denkwürdig sie auch für das Kind selbst gewesen sind: Eltern und sogar ältere Geschwister gingen achselzuckend daran vorbei. Schlimmer noch: Wer erzählt, was er von dem mit vier oder fünf Jahren Erlebten weiß, bekommt häufig ein verblüfftes ›aber weißt du das denn nicht mehr?‹ zu hören. Zur selben Zeit hatte es vielleicht bei den Nachbarn gebrannt, war ein Onkel im Eis eingebrochen und fast ertrunken oder das erste Auto angeschafft worden – alles vergessen. Auch in dieser Hinsicht verweisen frühe Erinnerungen eher auf Vergessen als auf ein in Schwung kommendes Gedächtnis.
Studien, die sich auf Ereignisse richten, die sehr wohl verifiziert werden können, haben so ihre eigenen Komplikationen. Die Psychologen Usher und Neisser versuchten es 1993 mit der Erinnerung an Ereignisse wie der Geburt eines Geschwisterkindes, eines Umzugs oder eines Krankenhausaufenthalts.
Anmerkung
Ihre Probanden sollten versuchen, sich zu erinnern, wer während der Geburt auf sie aufpasste, wie sie erfahren hatten, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden war oder wer sie ins Krankenhaus begleitet hatte. Die Versuchspersonen konnten meist etliche der Fragen beantworten. Hinterher wurden ihre Antworten durch ihre Mütter verifiziert. DieErinnerungen waren in groben Zügen zutreffend. Aber fünf Jahre später führten Eacott und Crawley eine ziemlich unterminierende Variante dieser Studie durch.
Anmerkung
Sie teilten ihre Versuchspersonen in zwei Gruppen ein. Eine Gruppe wiederholte einen Teil der Studie von Usher und Neisser mit demselben Fragebogen zur Geburt eines zwei oder drei Jahre jüngeren Geschwisterkindes. Den Versuchspersonen in der anderen Gruppe legte man vergleichbare Fragen vor, jedoch zu ihrer eigenen Geburt, zum Beispiel, wer auf ihren älteren Bruder aufpasste, als sie geboren wurden. Diese Gruppe konnte also nicht aus Erinnerungen schöpfen, sondern musste Informationen hinzuziehen, die sie später aus Erzählungen oder Fotoalben bekommen hatten. Die zweite Gruppe konnte genauso leicht die Fragen zur eigenen Geburt
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