Das Buch des Vergessens
Morgens wird er wach, und der Name ist wieder weg. Ein Patient von Freud erzählte während der Analyse, dass er träumte, er habe in einem Kaffeehaus ein Glas ›Kontuszówka‹ bestellt, fügte jedoch hinzu, er habe noch nie etwas vondiesem Getränk gehört. Ausgeschlossen, sagte Freud, das sei ein polnischer Branntwein, für den schon seit geraumer Zeit auf Plakaten in der Stadt Reklame gemacht werde. Der Mann weigerte sich, ihm zu glauben. Bis er einige Tage später selbst ein solches Plakat an einer Straßenecke sah, an der er schon monatelang bestimmt zweimal täglich vorbeigekommen war. Freud selbst wurde vom Bild eines Kirchturms verfolgt, das er nicht einsortieren konnte: Etwa zehn Jahre später sah er den Kirchturm bei einer Zugfahrt wieder, und ihm wurde klar, dass er diesen Turm während einer anderen Reise entlang derselben Strecke gesehen haben musste. Bei wachem Bewusstsein, schrieb Havelock Ellis, sind die Assoziationen zielgerichtet, konzentriert; im Traum selbst sind sie diffus, haben eine größere Reichweite, aber wir verlieren auch die Fähigkeit, sie zu steuern: »Unsere Augen fallen zu, unsere Muskeln werden schlaff, die Zügel entgleiten den Händen. Aber manchmal kennt das Pferd den Nachhauseweg noch besser als wir.«
Anmerkung
Hypermnestische Träume wurden jedoch als Beweis für die Theorie aufgefasst, dass nichts von unserem Erlebten jemals wieder aus dem Gedächtnis verschwindet (siehe Seite 209 ff.). Ein flüchtiger Blick auf eine Zeichnung, ein lateinischer Name aus einer langen Reihe, ein Plakat, ein abwesender Blick aus einem Zugfenster: Es ist alles noch da, die neurologischen Spuren dieser Erlebnisse bestehen für den Rest des Lebens, auch wenn sie nur zufällig erneut aktiviert werden.
Für manche Zeitgenossen Delboeufs war dieselbe Hypermnesie die Erklärung eines weiteren Rätsels, wenn auch ebenso flüchtig: die Déjà-vu-Erfahrung. Alle Erfahrungen, Träume eingeschlossen, sogar die, an die wir uns am nächsten Tag nicht mehr erinnern, sind in unserem Gehirn gespeichert, und wenn wir tagsüber etwas erleben, das ausreichend Assoziationen mit dem gemein hat, was wir geträumt haben, wird das Gefühl entstehen, das alles schon einmal erlebt zu haben. In gewisser Weise ist das auch so: Hinter unserer gerade gemachten Erfahrung steht das schemenhafte Bild des Traums, der ihr ähnelt. Und weil wir diesen Traum nicht datieren können und die Assoziationen vage sind, scheint der Vorfall aus grauer Vorzeit, wie aus einem früheren Dasein.
Ob unser Gedächtnis wirklich alles enthält, was wir erlebt haben, ist nicht in absolutem Sinn zu bestimmen. Und ob wir im Traum Zugang zu einem größeren, tieferen, reicheren oder auch nur anderen Erinnerungsvorrat haben, erst recht nicht: Dafür müsste man Beispiele wie die von Delboeuf, Havelock Ellis und Freud mit dem vergleichen können, was in einem Traum unzugänglich bleibt, während wir uns im wachen Zustand sehr wohl daran erinnern. Eine solche Aufrechnung ist undurchführbar. Dass in Träumen etwas auftauchen kann, das sozusagen abseits unserer täglichen Assoziationspfade liegt, ist sicher. Gegen Havelock Ellis’ Erklärung ist wenig einzuwenden. Während des Traums entfallen einige Assoziationsschalter, wodurch die Geschichte an Zusammenhang verliert, aber es können auch neue Verbindungen entstehen, die ihrerseits zu Orten im Gedächtnis führen, wo Material lagert, das schon so lange nicht mehr im Bewusstsein aufgetaucht ist, dass es vergessen scheint. Die kryptische Zusammenfassung von Havelock Ellis lautet: »Wir erinnern uns an das, was wir vergessen haben, weil wir vergessen, an was wir uns erinnern.«
Anmerkung
Ältere Auswanderer, die schon fünfzig, sechzig Jahre lang ihre neue Sprache sprechen, beginnen zu ihrer eigenen Überraschung wieder in ihrer Muttersprache zu träumen. Der Traum scheint dann Zugang zu einem Wortschatz zu verschaffen, an dem die Assoziationen tagsüber vorbeigehen.
Manchmal hat der Träumende schon während des Traums das Gefühl, etwas zu hören oder zu sehen, das so vollkommen neu ist und so außerhalb seiner normalen Erfahrung liegt, dass er nichts lieber wollte, als diese Erfahrung unmittelbar und dauerhaft in seinem Gedächtnis festzuhalten. Der französische Astronom de Lalande unternahm 1766 eine italienische Reise, die ihn nach Padua führte, die Universitätsstadt von Venedig. Dort beschloss er, Giuseppe Tartini zu besuchen, Komponist, Musiktheoretiker und seit einem Jahr, nach einer
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