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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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beantworten wie die erste Gruppe zur Geburt eines jüngeren Geschwisterkindes. Dass Mütter die Antworten der ersten Gruppe als ›exakt‹ beurteilt hatten, ist also keine Garantie dafür, dass es sich wirklich um Erinnerungen handelte. Offensichtlich ist es in diesem Alter schwierig, neben der Information auch die Herkunft derselben zu behalten.
    Die meisten spontan erzählten ersten Erinnerungen lassen sich nicht verifizieren. Erinnerungen an Ereignisse, über die es Informationen gibt, sind schwer von dem zu unterscheiden, an was man sich später unabhängig von diesen Quellen ›erinnert‹. Die Kombination dieser beiden bedeutet, dass über die Verlässlichkeit erster Erinnerungen nicht viel Entscheidendes zu sagen ist, jedenfalls nicht mit wissenschaftlichem Anspruch. Das Verdienst von Studien wie der von Eacott und Crawley ist gerade, dass sie erläutern, warum dem so ist. Eine Einschätzung der Verlässlichkeit individueller erster Erinnerungen kann man nur anhand allgemeiner Überlegungen über Reifung und Entwicklung vornehmen. In Anbetracht der Anlage des Gehirns im ersten Jahr und der noch zarten Entwicklung kognitiver Fähigkeiten ist die Erinnerung an eine Chaconne von Bach im Alter von zwei Monaten ausgeschlossen. Das Gleiche gilt für die Wahrnehmung einer Ehrenpforte in der Hecke der Nachbarn im Alter von drei Monaten oder die Erinnerung Jan Wolkers’ an den Blümchenstoff seines Kinderwagens. Aber danach wird es schwieriger. Auch die neurologische und kognitive Reifung differiert von Fall zu Fall. Monika van Paemel, die sich erinnert, dass sie als Baby in einem Korb mit Hundewelpen lag? Die Erinnerung von Neeltje Maria Min, dass sie als Baby von neun Monaten auf dem Arm ihrer Mutter feiernde Menschen beobachtete? Hier gelangt man in einen Bereich, in dem ein schlichtes ›gibt es nicht‹ etwas Subtilerem Platz machen muss. Beispielsweise, indem man überlegt, wie wahrscheinlich es ist, dass Min sich wirklich an das Ereignis erinnert, oder ob sich nicht vielleicht die Familie ein paar Jahre später an die Befreiung erinnert und Min sich als Kind von vier oder fünf Jahren diese Geschichten als eigene Erinnerungen angeeignet hat.
    Es kann auch sein, dass sie von diesen Geschichten geträumt hat und sich nicht mehr daran erinnert, dass die Bilder aus einem Traum sind. Wenn Hofland sich, wie sich später herausstellte, an ein wahres Ereignis als Traum erinnerte, ist es auch denkbar, dass man sich an einen Traum erinnert, als wäre er wahrhaftig geschehen. Die Literatur über frühe Erinnerungen bietet jede Menge gut dokumentierte Beispiele dieser Art von Verschiebungen. Aber noch einmal: Entscheidend können solche Erwägungen nicht sein, sie streichen die Erinnerung nicht einfach autoritär durch, sie setzen hier und da ein Fragezeichen.
Stadien
    Über das menschliche Gedächtnis wird in den schmeichelhaftesten Metaphern geschrieben. Es ist das Kronjuwel der Evolution, die Zitadelle des menschlichen Geistes. Aber die Anlage dieser Festung hat auf den ersten Blick keine Priorität. In den Jahren gleich nach der Geburt müssen wichtigere Dinge in dieses zarte Hirn eingeschliffen werden. Die Verfeinerung der Reflexe für Essen und Bewegen zum Beispiel, die Entwicklung der Auge-Hand-Koordination, das Entdecken von Mustern in sinnlichen Wahrnehmungen, die Interpretation von Gesichtsausdrücken, all diese Dinge, für die ein passiv funktionierendes Gehirn zunächst einmal ausreicht. Die Entwicklung eines Gedächtnisses, aus dem Erinnerungen mehr oder weniger willkürlich aufzurufen sind, ist zweitrangig. Dass diese ersten Jahre für die Bindung und Entwicklung des Kindes so wichtig sind und man gleichzeitig später so wenig davon zurückholen kann, ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch: Was für die Bindung wichtig ist, braucht nicht für das willkürliche Erinnerungsvermögen verfügbar zu bleiben.
    Auch in den Jahren danach wird es viele Erinnerungen während der Kindheit geben und wenige an sie. Zu der Zeit, in der sich das Gedächtnis allmählich herausbildet, das ein Kind in die Lage versetzt, sich nicht nur an etwas zu erinnern, sondern sich bewusst zu werden, dass es sich an etwas erinnert, ist dort schon vieles angelegt, das auch Gedächtnis ist. Die schleppende Entwicklung des autobiografischen Gedächtnisses, des Typs, den wir als Erwachsene mit der höchsten Form von Gedächtnis assoziieren, ist viel mehr Ausdruck seiner Komplexität. Für dieses Gedächtnis muss sehr vieles gleichzeitig

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