Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
Vom Netzwerk:
Räume.
    Und dann wären da noch die Inkohärenzen in der Theoriebildung. In der Psychologie ist es fast die Regel, dass man den unterschiedlichsten und manchmal widersprüchlichsten Theorien über ein und dasselbe Phänomen begegnet. Erkenntnisse verändern sich, Interessen verschieben sich, manche Fragen verlieren den Hintergrund, der ihnen Bedeutung verliehen hatte. Aber so große Mannigfaltigkeit wie gerade bei Theorien über Träume ist selbst in der Psychologie selten. Das gilt für Details, aber auch für die globalsten Ansichten und Orientierungen. Man begegnet der Auffassung, Träume lieferten eine tiefe und nicht über andere Wege erzielbare Erkenntnis, aber auch, sie hätten überhaupt nichts zu bedeuten. Manche Psychologen meinen, Träume seien für den Erhalt der psychischen Gesundheit absolut notwendig, andere sind der Ansicht, es ändere sich gar nichts, wenn Menschen nicht mehr träumen, etwa wegen der Einnahme bestimmter Medikamente. Träume sind vollkommen unverzichtbar oder ein zufälliges Nebenprodukt und alles dazwischen. Bei meiner Lektüre über Träume und Gedächtnis hatte ich selbst oft das Gefühl, durch ein altes und dunkles Haus zu irren.
    Damit wären wir dann schon zu dritt.
Der Eidechsentraum
    Die nächstliegenden Erklärungen für das Vergessen von Träumen wurden schon 1874 von dem deutschen Philosophen Ludwig Adolf von Strümpell formuliert.
Anmerkung
Traumbilder seien zu schwach, um bis in das Gedächtnis vorzudringen, genauso wie tagsüber viele Reize zu schwach sind, um eine Gedächtnisspur zu hinterlassen. Traumbilder wiederholen sich selten, also spielt auch das Repetieren, normalerweise eine wirkungsvolle Strategie für Behalten, keine Rolle. Es ist vielleicht kein Zufall, dass es sich bei den wenigen Träumen, an die sich Menschen erinnern, häufig um Wiederholungsträume handelt. Die meisten Menschen haben schlichtweg zu wenig Interesse für ihre Träume: Sobald sie wach sind, erfordern die täglichen Pflichten wieder alle Aufmerksamkeit, und schon bald ist jede Erinnerung an den Traum gelöscht. Strümpell beobachtete, dass Menschen, die eine Zeit lang ein Traumtagebuch führen, die Erfahrung machen, dass sie mehr träumen und diese Träume auch besser behalten, ein Phänomen, das seither vielfach bestätigt wurde.
    Und schließlich: Traumbilder zeigten zu wenig Zusammenhang, um über geordnete Assoziationen festgehalten zu werden. Es sindeinzelne Bilder, unser Gedächtnis kommt jedoch besser mit einem Ablauf klar, in dem Ereignisse auf logische Weise aufeinanderfolgen. Ausgedrückt in einer Metapher, die Strümpell noch nicht benutzen konnte: Träume ähneln einem chaotisch montierten Film mit fragmentarischen Szenen, kein Wunder, dass wir diese Bilder nicht behalten können. Nach Strümpell ist es weniger ein Rätsel, warum man Träume vergisst, sondern wie es eigentlich möglich ist, dass man ab und zu einen behält.
    Strümpells Erklärungen sind alt, aber deswegen noch nicht überholt. Auch moderne Autoren verweisen auf das Fehlen assoziativer Klebkraft in Träumen oder auf fehlende Konzentration in der Übergangsphase zwischen Schlafen und Wachen. Der Wert des Arguments, in einem Traum geschehe viel Unerklärliches, Unlogisches oder regelrecht Unmögliches und der Traum sei aufgrund eines fehlenden Zusammenhangs so schlecht zu behalten, ist schwierig einzuschätzen. Man kann genauso gut die umgekehrte Schlussfolgerung daraus ableiten. Wenn ich im echten Leben miterlebt hätte, dass ich mich plötzlich mit meiner begehrenswerten Nachbarin im Keller befände, würde ich mich eine Woche später bestimmt noch daran erinnern, umso mehr, als wir gar keinen Keller haben. Ich weiß, dass ich diese Art Träume so ab und an gehabt habe, aber ich kann mich an keinen einzigen von ihnen erinnern. Selbst der manchmal höchst kuriose Inhalt von Träumen garantiert nicht, dass sie gespeichert werden. Außerdem: Das Bewusstsein dafür, dass im Traum etwas Seltsames geschieht, entsteht meist erst nachträglich, beim Erzählen oder im Nachgrübeln über den Traum. Dann erst wird man sich einer Ungereimtheit nach der anderen bewusst: Menschen, die sich nie hätten treffen können, Tote, die noch leben, Personen, die aus dem Nichts auftauchen und mit denen man ein Gespräch anfängt, ohne sie erst zu fragen, woher sie so plötzlich gekommen sind. In Träumen kann es passieren, dass man auf einmal fließend Spanisch spricht oder dass man jemanden in Berlin trifft, obwohl man gerade noch in

Weitere Kostenlose Bücher