Das Buch des Vergessens
nicht weniger als 2525 Traumerinnerungen – seinen eigenen – auf ungefähr dieselben Ergebnisse.
Anmerkung
Knapp 35 Prozent seiner Traumerinnerungen zum Beispiel in der Nacht von Sonntagauf Montag hatten mit dem zu tun, was am Sonntag geschehen war, in der folgenden Nacht waren es schon weniger als 20 Prozent, und so verringerte sich der Anteil der Traumerinnerungen an Sonntag schnell auf wenige Prozent. Aber Jouvet machte auch eine überraschende Entdeckung. Nach einer Woche, in der achten Nacht, folgte eine Spitze von rund 10 Prozent, die nicht auf den gerade vergangenen Sonntag verwies, sondern auf den der letzten Woche. Das ist eine merkwürdige Beobachtung, denn die Spitze tritt einem allgemeinen Gedächtnisgesetz entgegen: Die Chance, etwas Erlebtes zu reproduzieren, nimmt mit der Zeit schnell ab und auf keinen Fall zu. Die Erklärung liegt möglicherweise darin, dass Wochentage für die meisten Menschen einen Gefühlswert haben. Ein Mittwoch fühlt sich anders an als ein Freitag, und wenn eine Arbeitswoche durch einen freien Montag erst am Dienstag beginnt, kann man an diesem Tag ein ›Montagsgefühl‹ haben, eine Irreführung, die manchmal eine ganze Woche mitschiebt und sogar dem Freitag noch ein Donnerstagsgefühl geben kann. Dieses Phänomen könnte auch mit sich bringen, dass man sich an einem Freitag leichter an Dinge erinnert, die am Freitag zuvor geschehen sind, als an Dinge, die erst drei oder vier Tage zurückliegen. Durch diesen ›Letzte-Woche-um-diese-Zeit-Effekt‹ könnte auch die Chance, dass Tagesreste von vor einer Woche auftauchen, zunehmen.
Eine genauso seltsame und unerklärte Periodizität tritt bei der Anpassung des Traums an eine andere Umgebung auf. Aus der Traumforschung bei Reisenden geht hervor, dass sich Tagesreste während der Reise noch sieben oder acht Nächte lang in der vertrauten heimischen Kulisse abspielten und erst danach die neue Umgebung in den Traum eingebunden wurde. Nach der Heimkehr dauerte es wiederum lange, bis die Kulisse der Reise aus den Träumen verschwand. Dieselbe Verzögerung hat man bei Träumen Gefangener festgestellt: Was sie während der ersten Tage ihrer Gefangenschaft erlebten, tauchte zwar als Tagesrest auf, aber in der Umgebung von zu Hause, nach ihrer Freilassung geschah das Umgekehrte. Diese aufgeschobene Verarbeitung suggeriert, dass an der Speicherung und Reproduktion von Ereignissen und dem visuell-räumlichen Setting dieser Ereignisse unterschiedliche Gedächtnisprozesse beteiligt sind.
Anmerkung
Gedächtnisspuren
Menschen, die Traumtagebücher führen, fällt häufig auf, dass diese Tagesreste nichts mit dem zu tun haben, was man als Hauptsachen des Lebens tagsüber bezeichnen könnte, die Dinge, über die man sich Sorgen macht oder die die täglichen Verrichtungen beherrschen. Oft sind es gerade unbedeutende Bilder, ein flüchtiger Schein von etwas, das man tagsüber kaum bemerkte, irgendein triviales Detail, ein Gesprächsfetzen. Manche haben dadurch den Eindruck, der aktuelle Tagesfilm werde nachts erneut projiziert und ein Tagesrest sei nichts anderes als ein Abglanz dieses Films. Es gibt zwei neurophysiologische Theorien, die gerade für dieses Phänomen eine Erklärung suggerieren.
Die erste stammt von Francis Crick, einem Genetiker, und dem Molekularbiologen Graeme Mitchison. Sie nahmen an, das Gedächtnis werde tagsüber mit Assoziationen überfüttert. Die meisten dieser Assoziationen seien parasitär oder irrelevant und das Gehirn gehe deswegen nachts in aller Ruhe die Informationen vom Tag noch einmal durch und werfe das meiste weg.
Anmerkung
Von diesem ›reverse learning‹ oder Entleeren merken wir nichts, nur im Traum erhaschen wir manchmal einen Schimmer von der ganzen Sortiererei und sehen ein Fragment vorbeikommen, dass getrost entsorgt werden kann.
Die zweite Theorie stammt von dem Neurowissenschaftler Jonathan Winson.
Anmerkung
Er argumentiert, das Gehirn habe gerade nachts die Chance, Erinnerungen von einem vorübergehenden Speicherort auf einen dauerhaften zu übertragen, und man könne diesen Datenverkehr, um ihn einmal so zu nennen, auch in der Aktivierung bestimmter Schaltkreise im Gehirn und der Herstellung der dafür notwendigen Neurotransmitter aufzeigen. Es sei eine evolutionär früh angelegte Funktion und trage auch deren Züge: Träume kommen ohne Sprache aus, wir träumen in Bildern. Das spielt sich größtenteils im Unbewussten ab, weil sich das Bewusstsein erst später in der Evolution
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