Das Buch des Vergessens
verwies. Dieser Vergleich war schon damals, was er noch immer ist: der selbst gewählte Stempel des Autodidakten, dessen revolutionärenIdeen man keinen Glauben schenkte. Vielleicht klingt hier auch die Unsicherheit über seinen professionellen Status durch. Als ›Surgeon‹ hatte er einen der niedrigsten medizinischen Ränge inne, knapp über dem Apotheker.
Nach der Veröffentlichung von Duality suchte Wigan weiter nach neuem Beweismaterial. Er reiste nach Neapel, Sardinien und in die Lombardei, besuchte auch in den Niederlanden Irrenanstalten und Frauenzuchthäuser, war bei Autopsien zugegen und sah sich in anatomischen Kabinetten um. Auf seinen Reisen besuchte er »mehr als Hundert der vortrefflichsten Männer Europas«, um sich mit ihnen über seine Lehre des doppelten Gehirns auszutauschen, und stellte rückblickend zufrieden fest: »Ich kann mich an keinen Widerspruch irgendeines Mannes dieses Kalibers erinnern, der nach meiner Erklärung nicht verschwunden wäre.«
Anmerkung
Die letzten Jahre dieses unbeirrbaren Geistes waren einsam und kränklich. Seine Frau war im Erscheinungsjahr seines Hauptwerks verstorben. Eines Tages im November 1847 wurde ihm schlecht, als er zu dicht neben einem offenen Abwasserkanal in der Nähe der Regent Street stand. Ein Freund, der Arzt Forbes Winslow, lud Wigan ein, einige Zeit bei ihm in Hammersmith in der Nähe von London zu verbringen. Er blieb ein paar Tage dort, wollte aber dann gegen jeden Rat zurück nach London, um an einem festlichen Abendessen teilzunehmen. Es sollte der letzte gute Rat sein, den er in den Wind schlug. Am nächsten Tag bekam er hohes Fieber. Am 7. Dezember 1847 erlag er einer Lungenentzündung.
Zwei Gehirne, ein Bewusstsein
Für die zwölf-, dreizehnhundert Gramm Nervengewebe, die unser Denken, Fühlen und Handeln steuern, gibt es im Niederländischen ein Singularwort, brein, und ein Pluralwort, hersenen. Die Sprache spiegelt eine anatomische Unklarheit. Ist das Gehirn ein einzelnes Organ wie das Herz, oder handelt es sich um ein paariges Organ wie Augen und Nieren? Wer von oben auf das Gehirn schaut, sieht die beiden Hemisphären symmetrisch neben der zentralen Furche liegen; erst wenn diese beiden Teile sanft auseinandergezogen werden, kommt tief unten ein verbindender Gewebestreifen zum Vorschein, das corpus callosum oder der Hirnbalken. Das ist das größte Nervengewebsbündel, das im Tierreich zu finden ist.
Für Wigan war der Hirnbalken keine Verbindung, sondern eine Trennung. Er verwies auf den Fall eines Mannes mit einem Wasserkopf, bei dem der Hirnbalken durch den Druck der Flüssigkeit genau der Länge nach gespalten worden war. Bei der Autopsie stellte sich heraus, dass beide Hemisphären vollkommen unabhängig voneinander lagen, jeweils an ihre eigene Seite der Schädelhöhle gedrückt. Dies hatte jedoch auf seinen Intellekt keinerlei Auswirkung gehabt, offensichtlich war der Hirnbalken ein »Organ ohne jegliche Bedeutung«.
Anmerkung
Der erste Zwischenfall, der ihn – dreißig Jahre zuvor – dazu gebracht hatte, über die allgemein anerkannte Lehre nachzudenken, das Gehirn bestehe aus zwei miteinander verbundenen Hälften, betraf einen zwölfjährigen Jungen. Er hatte versucht, ein Krähennest auszuräubern, hatte dabei aber das Gleichgewicht verloren und war mit dem Kopf auf der scharfen Kante einer Eisenbahnschiene gelandet. Durch den Aufprall war ein Teil seines Gehirns weggeschlagen worden. Wigan hatte die Wunde, so gut es ging, verbunden. Zu seinem großen Erstaunen war der Junge am nächsten Morgen vollkommen klar, er hatte keine Schmerzen und genas innerhalb weniger Wochen ohne auch nur ein einziges Anzeichen eines Schadens an seinem Verstand.
Anmerkung
Danach waren Wigan weitere Patienten untergekommen, bei denen sogar ganze Hemisphären geschrumpft waren und die dennoch weiterhin über ihre vollständigen Verstandeskräfte verfügten. Die Schlussfolgerung drängte sich geradezu auf: Jedes Gehirn ist Träger eines selbstständigen Bewusstseins.
Wenn beide Gehirne jeweils Träger eines selbstständigen, bewussten Lebens sind, stellt sich die Frage, wie es dann möglich ist, dass wir kein zweifaches Bewusstsein erfahren. Warum sind wir uns lediglich eines Gedankengangs, einer Assoziationskette, einer Sammlung sinnlicher Wahrnehmungen bewusst? Wigans Antwort lautete, eines der beiden Gehirne, meist das linke, sei unter normalen Umständen dominant, das andere untergeordnet. Das herrschende Gehirn bestimme unser Geistesleben
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