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Das Buch des Vergessens

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Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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die Geistesgestörte oft von sich gäben, seien übrigens nur beim ersten Zuhören wirr, fand Wigan. Er schrieb eine dieser Geschichten Wort für Wort auf, nummerierte die Sätze von 1 bis 10 und bat seine Leser, erst die ungeraden und danach die geraden Sätze hintereinander zu lesen. In der ersten Kette gab der Patient einen empörten, aber zusammenhängenden Bericht über seine Aufnahme und die Erniedrigungen, die ihm in der Einrichtung widerfahren waren: wie er, ein Herr von Stand aus einem zehn Generationen zurückreichenden Geschlecht, hier eingeliefert worden sei unter dem Vorwand, man bringe ihn in seinem eigenen Wagen zu einem Hotel, von seinem eigenen Kutscher wohlgemerkt, der seit zwanzig Jahren in seinen Diensten stehe, wie er dann an Händen und Füßen am Bett festgebunden worden und eine dicke Haushälterin hier noch die einzige sei, die ihm mit Ehrfurcht begegne. Die zweite Kette war eine Aufzählung seiner Wahnvorstellungen: Er sei der Sohn der Sonne und schicke Plagen über die Erde, die alles versengten, lasse Brunnen austrocknen und stecke Wälder in Brand, damit alle Fasane umkämen. Der wirre Monolog des Unglücklichen habe sich als wohlgeordneter Dialog zwischen einem gesunden und einem kranken Gehirn herausgestellt.
Anmerkung
    Ärzte, auch die angesehensten unter ihnen wie Sir Henry Holland, Leibarzt von Königin Victoria, machten den Fehler, im menschlichen Geistesleben nur den Kampf zwischen höheren und niedrigeren Funktionen zu sehen. Holland hatte dies im Sterbeprozess von William Hyde Wollaston bemerkt, in den er während der letzten Monate des Jahres 1828 einbezogen war. Wollaston, selbst als Arzt ausgebildet, aber als Chemiker und Physiker berühmt geworden, war der Entdecker der Elemente Rhodium und Palladium. Er hatte sein Vermögen mit der Entwicklung einer Technik für die Bearbeitung von Platinerz gemacht. Während einer Jagdpartie merkte er, dass eine Fingerspitze gefühllos geworden war. Holland schrieb, Wollaston führe täglich Experimente an sich selbst durch, um das Fortschreiten der Krankheit zu verfolgen, und sei schließlich zu der – berechtigten – Schlussfolgerung gelangt, eine Gehirnhälfte sei durch einen bösartigen Prozess in Mitleidenschaft gezogen. Die höheren Funktionen, versicherte Holland, seien noch lange intakt geblieben. Aber das war nicht, was Wigan in dem Sterbebettbericht gelesen hatte: »Selbstsucht, sicher nicht eine der höheren Qualitäten des menschlichen Geistes, überlebte nahezu jedes andere Gefühl, und erst in seinen letzten Momenten war Dr. Wollaston bereit, sein gewinnbringendes Geheimnis über die Behandlung von Platin preiszugeben, obwohl er damit schon ein gewaltiges Kapital angehäuft hatte. Ich kann es nur als meine Pflicht betrachten, jegliche selbstsüchtige Kleinheit großer Männer als Warnung für andere festzuhalten, und deswegen notiere ich diese Tatsache.«
Anmerkung
Kurz bevor er starb, hatte sich noch etwas Bemerkenswertes ereignet. Als alle anwesenden Ärzte dachten, Wollaston sei nun dem Tod so nah, dass er das Bewusstsein verloren habe und nicht mehr sprechen könne, habe er ein paar Ziffern auf eine Tafel gekritzelt und sie korrekt zusammengezählt, als Zeichen für sie, dass er sich seines Zustands noch vollkommen bewusst und demnach in der Lage sei, ihre Dienste zu schätzen.
Anmerkung
Bei Wollaston, erklärte Wigan, habe lediglich ein Gehirn im Sterben gelegen, auch wenn dieses den Tod beider verursacht habe. Es seien bei ihm nicht so sehr die ›höheren‹ Funktionen, die verschont blieben, sondern die ›gesunden‹, die des nicht kranken Hirns. Die Addition habe das nicht erkrankte Gehirn durchgeführt, und es sei auch dieses Gehirn, welches das lukrative Geheimnis so ängstlich bis zum letzten Augenblick gehütet habe.
    Wigan, so scheint es, war wie besessen von der Wendung zum Bösen, die ein Leben nehmen kann, wenn das gute Gehirn vom kranken angegriffen wird und allmählich jegliche Sittlichkeit aus dem Handeln zu verschwinden beginnt. Voller Mitleid beschrieb er den Fall eines Herrn, dem man während einer vorbildlichen Laufbahn die Leitung über ein großes Büro anvertraut hatte. Er war Witwer, seine Kinder waren früh gestorben. Er durfte sich der Zuneigung seiner Untergebenen erfreuen, sein Regiment über sie trug väterliche Züge. Obwohl er ein üppiges Gehalt bezog, hielt ihn seine Güte arm. Als er auf die sechzig zuging, wurde er allmählich geschwätzig. Seine Konversation, zuvor würdig und

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