Das Buch des Vergessens
zurückhaltend, nahm nun abund zu eine bedenkliche Wendung. Zurechtweisungen zeigten nur vorübergehend Wirkung. Schließlich wurden seine Bemerkungen regelrecht obszön, eine Entlassung war unvermeidlich. Zu Hause packte er ein paar Kleidungsstücke zusammen, steckte noch etwas Kleingeld ein und begann ziellos umherzustreifen. Man verlor ihn aus den Augen. Nach drei Monaten wurde er in einem abgelegenen Teil des Königreichs tot aufgefunden, buchstäblich auf einem Misthaufen, in dem er Wärme gesucht hatte. Die unmittelbare Todesursache war Hunger. Aber als der Schädel geöffnet wurde, stellte man in der linken Hemisphäre eine beträchtliche Aufweichung fest. Auch die rechte Hemisphäre war erkrankt.
Was genau seinen Untergang verursacht hatte, fand Wigan schwer zu beurteilen. Vielleicht hatte das rechte Gehirn gemeutert, oder die Kraft des linken Gehirns hatte nachgelassen, vielleicht eine Kombination aus beidem. Aber die Selbstbeherrschung, die dieser vortreffliche Herr schon in jungen Jahren gepflegt habe, hatte noch lange das wirkliche Ausmaß der Verwüstung kaschiert: »Wir dürfen zahlreiches Ringen und Besiegen vermuten, bevor der Kampf schließlich aufgegeben wurde und er sich der vollen Kraft seiner niedrigen Triebe überließ.«
Anmerkung
Phantome
Für Wigan waren kein Fall und kein Symptom im Vorhinein zu bizarr, um es in sein Buch aufzunehmen. Er setzte seine Ehre daran, Patienten aufmerksam zuzuhören, ihrem Bericht zu vertrauen und sich erst später ein Urteil zu bilden. Dieser Einstellung ist es zu verdanken, dass in Duality Beschreibungen von Störungen zu finden sind, die erst viel später von der ›offiziellen‹ Wissenschaft ernst genommen wurden. Wigan beschrieb den Fall des Berliner Buchhändlers Nicolai, der zu seinem Schrecken eines Morgens, zehn Schritte von sich entfernt, die Gestalt eines Verstorbenen wahrnahm. Ängstlich rief er seine Frau hinzu, doch die sah nichts und ließ sofort einen Arzt kommen. Nach etwa sieben Minuten verschwand die Gestalt wieder. Am Nachmittag kehrte sie zurück, aber da war Nicolaibereits klar, dass es sich nur um ein Produkt seines eigenen Geistes handelte. In den folgenden Monaten erschienen noch häufig solche Gestalten, mal von Lebenden, mal von Verstorbenen, immer unwillkürlich und ohne ihm noch Angst einzuflößen. Er hatte ein klares Bewusstsein von Wahrheit und Illusion: »Ich wusste genau, wann es nur so schien, als öffne sich eine Tür und ein Phantom betrete das Zimmer, oder wann die Tür wirklich aufging und eine Person hereinkam.«
Anmerkung
Jemand anderes, ein gewisser Dr. Bostock, hatte in fiebrigem und erschöpftem Zustand vergleichbare Gestalten gesehen. Sie folgten den Bewegungen seiner Augen, und auch er war sich in aller Deutlichkeit der Tatsache bewusst, dass diese Gestalten seiner eigenen Fantasie entsprangen. Schließlich amüsierte er sich sogar über die Bilder: »Es schien, als würden etliche Gegenstände, hauptsächlich menschliche Antlitze und Gestalten in Miniatur, vor mir abgestellt und nach und nach wieder weggenommen, wie eine Reihe von Medaillons.«
Anmerkung
In diesen harmlosen visuellen Halluzinationen sind die Bilder zu erkennen, die der Schweizer Naturforscher Charles Bonnet 1760 beschrieben hatte. Seine Beobachtungen gerieten in Vergessenheit und wurden erst 1936 von De Morsier wiederentdeckt, einem Genfer Nervenarzt, der ihnen den Namen Bonnet-Syndrom gab.
Anmerkung
Sie werden einer Unterreizung des Gehirns zugeschrieben, das dann selbst anfängt, visuelle Reize hervorzubringen, die als ›von außen‹ erfahren werden. Das war selbstverständlich nicht die Erklärung, die Wigan präsentierte: Hier seien zwei Gehirne gleichzeitig am Werk. Die Wahrnehmung des einen, des kranken Hirns müsse so gestört sein, dass es nicht vorhandene Reize zu verarbeiten beginne. Das gesunde Gehirn stelle natürlich schnell fest, dass in Wirklichkeit nichts zu sehen sei, daher die Beruhigung nach dem ersten Schrecken. Es könne dem auch jederzeit ein Ende bereiten, tue es jedoch nicht, weil es sich durchaus an den vagen Bildern seines Nachbarn erfreue.
Der Beschreibung Wigans war die von Bonnet vorangegangen. Aber mit seinem Hinweis auf eine ausgesprochen selektive Form von Vergessen war Wigan, soweit feststellbar, der Erste. Eines Tageserschien ein Mann mittleren Alters in seiner Sprechstunde. Er hatte ein merkwürdiges Leiden: Sosehr er sich auch anstrengte, er konnte sich keine Gesichter einprägen, er vergaß sie
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