Das Buch des Vergessens
stellt sich heraus, dass diese Lösung nicht funktioniert hat. Zum Glück hat Ihr Kollege mittlerweile eine andere Idee, eine bessere Idee, eine glänzende Idee: die Ihre. Sie werfen einen Blick in die Runde. Zu Ihrem Entsetzen stellen Sie fest, dass Sie der Einzige sind, der sich darüber bewusst zu sein scheint, dass es Ihre Idee war. Was hat sich im Hirn Ihres Kollegen abgespielt?
Ein Fall wie dieser ist die Folge eines faszinierenden Unterschieds zwischen zwei Gedächtnistypen, dem semantischen und dem autobiografischen Gedächtnis. Das semantische Gedächtnis enthält Material, das man eher als ›Wissen‹ bezeichnen würde und nicht als Erinnerungen: Wissen, was Inkubation bedeutet, wie der Satz von Pythagoras lautet, was ein Testament zugunsten des überlebenden Partners ist, wie die Meeresenge zwischen England und Frankreich heißt. Dieses Wissen hat man sich einst angeeignet, aber in den meisten Fällen hat man die Umstände des Lernens mittlerweile vergessen. Fast niemand kann berichten, wie oder wann er gelernt hat, dass Stockholm die Hauptstadt von Schweden ist.
Das autobiografische Gedächtnis versucht festzuhalten, was wir erlebt haben. Dieser Gedächtnistyp hält sehr wohl die Umstände dessen fest, was wir erlebten, oder gibt sich jedenfalls die größte Mühe. Im Laufe der Zeit kann alles Mögliche verloren gehen, aber häufig kann man durchaus noch angeben, wo etwas geschehen ist oder wer dabei war oder ob es abends geschah oder tagsüber, außer Haus oder am Arbeitsplatz. Was wir aus dem autobiografischen Gedächtnis heraus erzeugen, hat meist einen Kontext.
Als Sie in der vorigen Versammlung Ihre Lösung vorstellten, blieben Sie im autobiografischen Gedächtnis Ihres Kollegen noch für kurze Zeit Teil seiner Erinnerung an die vorgeschlagene Lösung. Die Lösung selbst fand den Weg in sein semantisches Gedächtnis und verband sich dort mit dem bereits vorhandenen Wissen über das lästige Problem – und Ihnen als dem sich schnell verflüchtigenden Kontext.
Kryptomnesie ist also nicht ohne Weiteres die Folge eines versagenden Gedächtnisses. Sie entsteht, weil ein anderer Teil des Gedächtnisses – beim Kollegen das semantische, bei George Harrison und Steve Vai das musikalische Gedächtnis – etwas besonders gut behalten hat. Es ist die Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Gedächtnisprozessen, die Kryptomnesie erzeugt. Und wenn man die ganze Angelegenheit in einem umfassenderen, evolutionären Zusammenhang betrachtet, kann man diesem Arrangement auch noch etwas Positives abgewinnen. Konfrontiert mit einem Problem, ist es für das Überleben von Individuum und Gruppe nicht so funktionell, behalten zu haben, wer da neulich so eine praktische Lösung gefunden hatte. Aber was war das noch?
Der Galilei der Neurologie
Nach seinem Tod 1847 trat der englische Hausarzt Arthur Ladbroke Wigan wieder in den Schatten zurück, aus dem er sich dank einer einzigen Idee und eines einzigen Buchs kurzfristig hatte lösen können. Diese einzige Idee war, dass es sich bei unserer rechten und linken Gehirnhälfte möglicherweise nicht um zwei Teile eines Organs handelt, sondern um zwei einzelne Gehirne, jedes mit eigenen Gefühlen, Gedanken und Impulsen. Das einzige Buch war The duality of the mind, in dem er alles gesammelt hatte, was er an psychiatrischem und neurologischem Beweismaterial hatte finden können.
Anmerkung
Es erschien im Herbst 1844 und konnte für kurze Zeit die Aufmerksamkeit der medizinischen Welt auf sich ziehen.
Aber danach: Schatten. Und zwar als Erstes über Wigan selbst. Es gibt keinerlei Porträt von ihm, und an persönlichem Besitz überliefert ist nur ein kurzer Brief. Es gibt eine einzige Unterschrift im Register des Royal College of Surgeons. Sein Name kommt weder in Briefen noch in Tagebüchern oder Autobiografien der Zeit vor. Es ist kein Testament erhalten, nicht einmal der Ort, an dem er begraben wurde, ist bekannt.
Schatten auch über seinem Buch: Es ist extrem selten, antiquarische Exemplare werden zu Wucherpreisen gehandelt.
Anmerkung
Eine noch viel tiefere Finsternis legte sich über die Lehre von den beiden Gehirnen. Rezensionen urteilten im günstigsten Fall reserviert, häufiger herablassend und sarkastisch. Nach einer ersten Rezensionsrunde, weniger als ein Dutzend Besprechungen, kam niemand mehr darauf zurück. Selbst ein Fortbestehen als historisches Kuriosum, als Anmerkung in neurologischen Handbüchern, war Wigans einziger Idee kaum beschieden. Sein Werk
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