Das Buch des Vergessens
durch die Rechnung gemachthätte, auch wenn er selbst vor allem den Vorteil sah, auf diese Weise vermieden zu haben, die Vorurteile von Professoren zu übernehmen. Vielleicht hatte der junge Wigan ja ein Autoritätsproblem, wie man es heute nennen würde: Er scheint dem guten Rat älterer Ärzte mit mehr Erfahrung wenig zugänglich gewesen zu sein. Noch während seiner Ausbildung, schrieb er in Duality, wurde England von einer Tollwutepidemie heimgesucht.
Anmerkung
Wer gebissen wurde, bekam den Rat, die Wunde tief und großzügig herausschneiden zu lassen. Wigan hatte selbst auch solche Wunden versorgt, aber mit wachsendem Widerwillen, denn er war zu dem Schluss gekommen, es gebe gar keine Tollwut. Er bombardierte Zeitungsredaktionen mit Artikeln, in denen er erklärte, bei Tollwut handele es sich genau wie früher bei der Hexerei um Aberglauben. Weil ihm niemand glaubte, schlug er einen Selbstversuch vor: Er würde sich persönlich von einem tollwütigen Hund beißen lassen. Alles war schon für das Experiment vorbereitet, er hatte seinen Arm bandagiert und eine offene Stelle gelassen, in die sich der Hund verbeißen konnte. Erst im letzten Moment ließ er sich davon abbringen.
1807 wurde Wigan Mitglied des Royal College of Surgeons. Er praktizierte gemeinsam mit dem Londoner Hausarzt Cleveland, heiratete 1813 dessen Tochter Lydia und gründete eine Familie. Nach Clevelands Tod übernahm er die Praxis, 1829 zog er mit seiner Familie nach Brighton, damals ein schnell wachsender Kurort, den die Londoner Mittelschicht aufsuchte. Neben seiner Praxis eröffnete er noch ein ›Dispensarium‹, eine kostenlose medizinische Einrichtung für die Ärmsten. Laut einer Anzeige in der Brighton Gazette war es täglich eine Stunde geöffnet. ›Persons decidedly dirty‹ wurden abgelehnt. ›Kostenlos‹ erwies sich als keine gute Idee: Er zehrte von seinem Vermögen, hielt aber hartnäckig an seiner Idee der kostenlosen Behandlung fest. 1835 folgte der unvermeidliche Konkurs. Seine normale Praxis führte er bis 1841 weiter. Mit sechsundfünfzig Jahren zog er sich aus dem aktiven Berufsleben als praktizierender Arzt zurück.
In den folgenden Jahren unternahm er Reisen nach Frankreich und Italien, besuchte Irrenanstalten und Gefängnisse und schrieb ein Buch über Brighton. In dieser Zeit tauchte auch klammheimlichdas › MD ‹ hinter seinem Namen auf, es hat jedoch niemand herausfinden können, an welcher Universität er den Titel Medical Doctor erworben haben sollte. 1843 begann er an The duality of mind zu schreiben, das im November 1844 erschien. Wigan war mittlerweile fast sechzig geworden.
Die Rezensionen der medizinischen Presse waren übereinstimmend in ihrer Kritik am etwas zu lockeren Stil des Buchs, es sei, befand jemand, »mit der Geschwätzigkeit eines Sechzigjährigen« verfasst. Der Stil verrate »den älteren Herrn, für den es sich bei Komposition und ordentlicher Abhandlung eines komplizierten Problems um eine neue Beschäftigung handele«.
Anmerkung
Die Lancet schrieb, Wigan habe ein Thema angeschnitten, das für einen einzelnen Mann und eine einzige Generation zu umfänglich sei. Ein anonymer Rezensent des American Journal of Insanity führte zu den zwanzig Thesen, in denen Wigan seine Lehre zusammengefasst hatte, an, dass die wichtigsten Thesen über das doppelte Gehirn nicht neu seien – Phrenologen hätten diese schon früher aufgestellt – und dass die übrigen Behauptungen zwar neu seien, aber leider nicht wahr, jedenfalls könnten sie aufgrund der Argumente, die der Autor angeführt habe, nicht als wahr akzeptiert werden. Dennoch habe er die Lektüre genossen, schloss er, weil sich nur ein kleiner Teil den merkwürdigen Auffassungen des Autors widmete und im Verhältnis dazu viel Raum für die »höchst interessanten« Fakten und Fälle blieb, die der Autor zur Illustration seiner Theorie anführt, auch wenn wir häufig nicht sehen, was sie mit dieser Theorie zu tun hätten.
Anmerkung
Kurzum, die Rezensenten waren angetan, aber nicht überzeugt.
Man kann es ihnen nicht verübeln. Der Stil ist tatsächlich der eines begeisterten Dilettanten. Wigan scheute sich nicht, lange Ausführungen zu beginnen und diese dann mit einem lakonischen ›Aber das nur nebenbei‹ abzurunden.
Anmerkung
An drei, vier Stellen spielte er auf die Umwälzungen an, die seine Lehre in der Neurologie zuwege bringen würde, und den Widerstand, den dies bei den etablierten Ärzten hervorrufen würde, wobei er auf Galilei
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