Das Buch des Vergessens
war nicht einmal wie ein Pfad, der wieder zuwuchs, nein, es gab kaum einen Pfad.
1969 geschah jedoch etwas Seltsames mit The duality of the mind. Plötzlich ging das Licht an, ein paar Hände blätterten hastig hindurch, und genauso plötzlich wurde es wieder dunkel. Anlass waren die Experimente des amerikanischen Neurologen Roger Sperry mit ›split brains‹. Versuche mit chirurgisch getrennten Hirnhälften zeigten, dass beide Hemisphären bis zu einem gewissen Punkt über eigene Repertoires an Funktionen verfügen. Joseph Bogen, ein Schüler Sperrys, glaubte in Wigan einen Vorläufer der Theorie der hemisphärischen Spezialisierung gefunden zu haben.
Anmerkung
Wigan schien auf einmal vom Fantasten zum Pionier geworden. Die Wiederherstellung seiner Ehre war jedoch von kurzer Dauer: Als sich nach einer flüchtigen Überprüfung herausstellte, dass Wigan mit seinen zwei Gehirnen etwas ganz anderes gemeint hatte, wurde The duality of the mind wieder zugeklappt.
So weit in groben Zügen das Schicksal Wigans und seiner Theorie. Und nun hat sein Buch – jedenfalls ein Neudruck aus dem Jahr 1985 – drei Abende lang im Lichtkegel meiner Schreibtischlampe vor mir gelegen. Wunderbare Abende. Seine psychiatrischen Fallstudien sind mit viel Sympathie geschrieben und so mitreißend wie die Geschichten von Oliver Sacks. Die autobiografischen Teile sind rührend: Wigan war ein empfindsamer Beobachter der Vorgänge in seinem eigenen Geist, und er besaß den Mut, auch das Schmerzliche mit seinen Lesern zu teilen. Die Geschichten über seine Patienten beweisen, dass er während der langen Zeit, in der er seine Praxis führte, seine Augen weit offen gehalten hat. Und sobald man zu lesen begonnen hat, wird man gänzlich davon eingenommen, wie eine einzige Idee, wenn man nur selbst an sie glaubt, sich in ein alles ordnendes Prinzip verwandeln kann. Im vergangenen Vierteljahrhundert, vertraute Wigan dem Leser im Vorwort an, habe er seine Hypothese über die beiden Gehirne fast täglich von einer Vermutung zu einer festen Überzeugung reifen sehen. Als Leser weiß man, dass etwas ganz anderes geschehen ist: Dieses doppelte Gehirn war für Wigan die einzige Möglichkeit, etwas von sich und der Welt zu begreifen.
Beide Gehirne haben ihr eigenes Gedächtnis. Aber die beiden Gedächtnisse bedeuten nicht ohne Weiteres eine Verdoppelung der Kapazität. Keines der beiden Gehirne hat Zugang zum anderen, es ist also zugleich auch die Rede von doppeltem Gedächtnisverlust.Jedes Gehirn selektiert, interpretiert und registriert nach eigenem Ermessen und vergisst gemäß eigener Gesetze. Die Erfahrungen und Erlebnisse des einen Gehirns sind nicht die des anderen. Sind beide Gehirne intakt und gesund, bleiben Diskrepanzen zwischen beiden Gedächtnissen begrenzt. Sie führen doppelt Buch, aber ohne allzu große Unregelmäßigkeiten. Erst wenn das eine Gehirn angegriffen ist – oder beide Gehirne krank werden –, entstehen Probleme. Dann kann es geschehen, dass das kranke Gehirn meutert und das gesunde Gehirn die Führung abgeben muss, mit fatalen Folgen für jegliches Handeln und Erleben. Wigans Beweismaterial entstammte hauptsächlich einer reichlich morbiden Sphäre. Mordlust ohne erkennbares Motiv, unbegreifliche Persönlichkeitsveränderungen, Halluzinationen, obszöne Impulse – sie springen den Patienten scheinbar aus dem Nichts an, in Wirklichkeit entstammen sie jedoch einem kranken Hirn, das zuvor noch sicher unter Kontrolle eines gesunden, willensstarken, tugendhaften Gehirns stand. Was vergessen schien, ja nicht einmal vorhanden, macht nachträglich seine Aufwartung im Bewusstsein. Mit seinen beiden Gehirnen versuchte Wigan Ordnung in pathologische Phänomene zu bringen, die zwei Generationen später durch eine andere Achse aufgeteilt werden würden: der Trennung zwischen bewusst und unbewusst.
Autodidakt
Das wenige, das über das persönliche Leben Wigans bekannt ist, stammt aus Beiträgen, die er unter Pseudonym für die Zeitschrift Illustrated Magazine, erschienen zwischen 1843 und 1845, schrieb.
Anmerkung
Darin ist zu lesen, dass Arthur Wigan in den letzten Wochen des achtzehnten Jahrhunderts als Fünfzehnjähriger nach London kam. Wahrscheinlich ist er dort bei jemandem in die Lehre gegangen, der schon eine medizinische Praxis führte – sicher ist das nicht, denn Wigan hat sich weitestgehend über seine Ausbildung ausgeschwiegen. In Duality gab er zu, dass mangelnde offizielle medizinische Ausbildung ihm immer einen Strich
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