Das Buch des Vergessens
Erinnerungen‹ fand Mitte der Neunzigerjahre ihren Höhepunkt. In Fachzeitschriften und Gerichtssälen wurde heftig über die Frage diskutiert, ob traumatische Ereignisse – in der Praxis meist sexueller Missbrauch – tatsächlich so lange aus dem Gedächtnis ausgeblendet werden können, dass sie vergessen scheinen. Dieser Streit ist mittlerweile beigelegt. Die Arbeitsgruppe Fictieve Herinneringen (Fiktive Erinnerungen), gegründet 1994 von Eltern, die des Missbrauchs beschuldigt wurden, hat sich 2004 aus Mangel an neuen Anmeldungen selbst aufgelöst. Aber eine noch aktive Startseite über ›falsche Erinnerungen‹ vermittelt mit ihren Hunderten von Links einen Eindruck der Heftigkeit und Intensität, mit der rund zehn Jahre lang um das Verhältnis zwischen Gedächtnis, Trauma und Vergessen gekämpft wurde.
Anmerkung
Möglicherweise tragen die Argumente, die dabei ausgetauscht wurden, dazu bei, die Frage nach der ›wirklichen Existenz‹ von Verdrängen zu erhellen.
Die Arena von Trauma und Vergessen
Als sie Anfang dreißig ist, sucht Laura Pasley Hilfe. Sie leidet schon seit ihrem zehnten Lebensjahr an der Essstörung Bulimie, ist viel zu dick, hat ihre Ausbildungen abgebrochen und fühlt sich unsicher und hässlich. Auf Anraten ihres Pfarrers meldet sie sich bei einem Psychotherapeuten, Steve. Gleich bei der ersten Sitzung fragt er Laura, ob sie jemals sexuell missbraucht worden sei. Sie bestätigt dies: Als sie neun war, hat ein Junge im Schwimmbad plötzlich seinen Finger in sie gezwängt. Aus Scham hatte sie niemandem davon erzählt. Steve sagt, das habe er nicht gemeint: An diesen Vorfall im Schwimmbad erinnere sie sich offensichtlich immer noch, er sei auf der Suche nach etwas Tieferem, etwas, das aus ihrem Gedächtnis ausgegraben werden müsse. Essstörungen, erläutert er, verweisen fast immer auf schweren Missbrauch. Sie müssten gemeinsam auf die Suche nach dem verborgenen Trauma gehen.
Bei den folgenden Sitzungen hält Laura die Augen geschlossen und hört Steve zu, der auf sie einredet. Viel versteht sie nicht davon, aber das mache nichts, sagt Steve, er spreche direkt zu ihrem Unterbewusstsein. Die Häufigkeit der Sitzungen nimmt zu. Die Versicherung weigert sich, die Therapie noch länger zu übernehmen. Laura verkauft ihr Auto und stürzt sich in Schulden. Eines Tages ist sie zu Hause und staubsaugt, als sie plötzlich das Bild eines etwa Dreijährigen vor sich sieht, der versucht, ein Baby unter einem Kissen zu ersticken. In der nächstfolgenden Sitzung versucht Steve sie davon zu überzeugen, dass ihr Bruder sie damals ersticken wollte. Unter Hypnose kommt das Bild, dass sie als Kind in der Badewanne sitzt und ihre Mutter ihr mit den Fingernägeln in die Vagina greift. Einige Zeit später gibt es Flashbacks, in denen ihre Mutter sie mit einem Kleiderbügel missbraucht. Im Laufe der Therapie geht es ihr immer schlechter, einmal muss sie wegen einer Überdosis an Medikamenten ins Krankenhaus aufgenommen werden.
Dann beginnt die Gruppentherapie. Mit etwa zehn weiteren Frauen beruft Steve stundenlange Zusammenkünfte ein, angefüllt mit Hypnosen, Flashbacks und Rollenspielen. Als Laura an der Reihe ist, brüllt er sie stundenlang an, sie verschweige dasSchlimmste. Eine der anderen Frauen hat eine Erinnerung an satanische Rituale und löst wieder eine neue Runde von Geschichten über Folterungen und Vergewaltigungen aus. Schließlich ›sieht‹ Laura Szenen mit Gruppenvergewaltigungen und Sex mit Tieren. Erneut landet sie mit einer Überdosis im Krankenhaus, leidet an Schlaflosigkeit, hat noch immer Bulimie und fast fünfzig Kilo zugenommen. Nach vier Jahren Therapie geht es ihr schlechter als je zuvor. Als Steve ihr sagt, sie gebe sich nicht genug Mühe, zerspringt etwas in ihr. Sie beschließt, mit ihm zu brechen.
Die tatsächliche Wendung kommt erst zwei Jahre später, als ihr ein Artikel über das ›false memory syndrome‹ in die Hände fällt. Darin wurde ein älteres Ehepaar interviewt, das von seiner Tochter des satanischen Missbrauchs beschuldigt wurde, zufällig eine der Frauen aus Lauras Therapiegruppe. Sie besucht das Ehepaar. Die schrecklichen Geschichten, die sie in der Gruppe über die beiden gehört hatte, können unmöglich mit ihrem persönlichen Eindruck von dem freundlichen Paar übereinstimmen. Allmählich verliert sie den Glauben an ihre eigenen Beschuldigungen und Flashbacks. Es ist, sagt sie, als ginge das Licht in ihrem Kopf an. Als ihr erst einmal klar ist, was man
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