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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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unerwünschten Gastes, in das Wohnzimmer zurückzukehren, geschützt werden muss. Und ein ›Zensor‹ wiederum muss darauf achten, dass er sich nicht in die Irre führen lässt.
    Die Diskussionen über die passendste Beschreibung für Verdrängen sind nicht mehr verstummt, auch wenn sie sich allmählich von Meinungsverschiedenheiten zwischen praktizierenden Analytikern zu Kontroversen zwischen Historikern über die Auslegung von Freuds Begriffsapparat verschoben haben. Ausgangspunkt waren Fragen nach dem vorhandenen oder nicht vorhandenen Zusammenhang mit Sexualität, der Deutung der Symbolsprache, mit der sich verdrängtes Material am Zensor vorbeizuschmuggeln versuchte, oder die feineren Nuancen zwischen Dissoziation und Verdrängung. Die radikalste Frage zum Verdrängen wurde erst viel später gestellt. Existiert Verdrängen denn überhaupt?
Wiedergefundene Erinnerungen
    »In diesen Tagen feiert der Begriff ›Verdrängen‹ seinen hundertsten Geburtstag«, schrieben die Rechtspsychologen Crombag und van Koppen 1994 mit einem gewissen Gespür für den historischen Augenblick.
Anmerkung
Es ist der Eröffnungssatz eines Artikels, in demsie eine Frage stellen, die im Widerspruch zu der in dieser Zeit laufenden Debatte über Verdrängen steht. Darin ging es – schon seit geraumer Zeit – um die Frage, ob Verdrängen ›wirklich existiert‹. Stimmt es, dass schmerzliche oder traumatische Ereignisse aus dem Bewusstsein vertrieben werden? Behalten sie aus dem Unterbewussten heraus doch Einfluss auf unser Handeln und Erleben? Können Erinnerungen durch Verdrängen in einem ›abgespaltenen‹ Teil des Bewusstseins landen? Kann ein Therapeut mit Spezialtechniken wie Hypnose oder Traumanalyse ›vergessene Erinnerungen‹ zum Vorschein bringen? Auf jede dieser Fragen gaben Gedächtnisforscher die unterschiedlichsten Antworten. Die Kontroverse hatte bereits seit etwa zwanzig Jahren die Gestalt eines Grabenkampfes.
    Crombag und van Koppen stellten eine Frage, die auf den ersten Blick eher ablenkend wirkte. Sie wollten wissen, ob Menschen glaubten, dass es Verdrängen gibt. Auch ihre Versuche, diese Frage zu beantworten, wirkten ein wenig einfältig: Sie führten eine Umfrage durch. Ihre Ausgangsüberlegung war von etwas beeinflusst, was man die Anwendung des ›Thomas-Theorems‹ nennen könnte: »Wenn Menschen eine Situation als real definieren, sind auch die Konsequenzen real.«
Anmerkung
Selbst wenn Verdrängen nicht existiere, argumentierten Crombag und van Koppen, würde dennoch die Überzeugung, dass Verdrängen existiert, unseren Umgang mit Situationen beeinflussen, in denen dieses unterstellte Verdrängen eine Rolle spielt. Sie kamen schon bald zur Sache.
    Angenommen, eine Frau habe Anzeige erstattet, weil sie während einer Therapie dahintergekommen ist, dass sie in ihrer frühen Jugend missbraucht wurde. Sie habe diesen Missbrauch lange Zeit vergessen, er war verdrängt, aber jetzt seien die vergessenen Erinnerungen ›wiedergefunden‹ und sie wolle den Täter mit seinem Vergehen konfrontieren. Wenn der Staatsanwalt beschließt, die Straftat zu verfolgen, entsteht eine komplizierte Situation. Der Verdächtige leugnet, es gibt keine Zeugen. Der Richter wird sich ein Urteil über die Frage bilden müssen, ob die wiedergefundenen Erinnerungen als Beweis anerkannt werden können. Möglicherweise wird er sich hierbei auf einen Sachverständigen berufen. In dem Moment wirddie Situation noch komplizierter. Lädt er die Gedächtnisforscher Merckelbach oder Wessel ein, werden diese erklären, dass es bislang niemandem gelungen sei, unter den kontrollierten Umständen eines Laborexperiments etwas wie ›Verdrängen‹ aufzuzeigen.
Anmerkung
Aber er kann sich auch auf Ensink stützen, die für dieselbe Universität Limburg tätig ist. Sie wird erklären, in ihrer Forschung habe sich herausgestellt, dass eine von drei Frauen, die als Kind schwer sexuell missbraucht worden waren, dies für einen gewissen Zeitraum vergessen hatte und dass ›Wiederfinden‹ also noch nicht bedeuten müsse, die Erinnerung sei unwahr.
Anmerkung
Wem soll man glauben? Konfrontiert mit sachverständigen, aber strittigen Urteilen, wird der Richter seine Entscheidung davon abhängen lassen, was er sowieso schon dachte. Daher ist es wichtig, zu wissen, in welchem Maße Richter – und Rechtsanwälte, Staatsanwälte und andere gerichtliche Amtsträger – glauben, dass Verdrängen existiert.
    In ihrer Umfrage legten Crombag und van Koppen den

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