Das Buch des Vergessens
mit dem Unwillen konfrontiert, Schwere und Umfang von Missbrauch anzuerkennen. Gloria Steinem stellte sich hinter die ›recovered memories‹-Bewegung, aber es gab ebenso Feministinnen, die der Ansicht waren, dass Anklagen, die auf Pseudoerinnerungen beruhten, echten Missbrauchsfällen Schaden zufügten.
Auch die Gedächtniswissenschaften wurden zur Kampfarena. Der amerikanische Psychologe Holmes schrieb 1990, er habe schon 1974 festgestellt, dass es ›keinen einzigen verlässlichen Beweis für die Existenz von Verdrängen gebe‹. Seither sei nichts erschienen, was ihn zu einer Meinungsänderung veranlasst habe.
Anmerkung
In den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts hatte man Experimente durchgeführt, die zu zeigen schienen, dass man sich an unangenehme Erinnerungen weniger gut erinnerte als an angenehme, aber in späteren Experimenten stellte sich heraus, dass es um einen anderen unterschwelligen Faktor ging: Die Intensität der Gefühle, die mit diesen Ereignissen einhergingen, bestimmte, wie gut sie behalten wurden, und die angenehmen Gefühle waren in diesem Fall intensiver erlebt worden.
Anmerkung
Holmes verwies auch auf neuere Studien,bei denen sich herausgestellt haben sollte, dass es mehr Zeit kostet, Stress auslösende Wörter zu erkennen als neutrale Wörter – als würden uns unsere Sinnesorgane schützen wollen, indem sie diese Wörter gleich verdrängten. Später erwies sich, dass die ›Stresswörter‹ weniger allgemein waren als die neutralen Wörter und dass dies den Unterschied erklärte.
Anmerkung
Andere Versuche, im Labor einen Beweis für Verdrängen zu finden, nutzten Dias von inszenierten Unfällen.
Anmerkung
Auch hier wurde kein Verdrängen festgestellt.
Aber vor allem zeigen diese Experimente natürlich, dass die Untersuchung von Trauma und Verdrängung sich nicht für das Labor eignet. Wie traumatisierend können Dias von Unfällen noch sein für jemanden, der regelmäßig fernsieht?, fragte sich Ensink zu Recht.
Anmerkung
Und in einer polemischen Reaktion auf einen Artikel von Merckelbach und Wessel über wiedergefundene Erinnerungen schrieb van der Hart verärgert, Phänomene bestünden nicht nur, wenn sie im Labor replizierbar seien.
Anmerkung
Es gibt eine ethische Grenze für den Charakter von Reizen, die man Versuchspersonen in einem Experiment verabreichen kann, und sogar bei den nachsichtigsten Ethikkommissionen hört das etwa bei ›widerwärtig‹ oder ›ekelhaft‹ auf. Echtes Traumatisieren geht nicht.
Viele Mediziner an Kliniken und Therapeuten sind der Ansicht, nach Verdrängen brauche auch nicht in Laboratorien gesucht werden: Sie begegneten ihm täglich in ihrer Praxis. In ihren Sprechzimmern säßen Menschen, die nach einem traumatischen Ereignis Hilfe suchten, und es koste sie häufig große Mühe, sich zu den Erinnerungen daran Zugang zu verschaffen. Manchmal sei es nicht nur dieses eine Ereignis, das gelöscht scheint, sondern es trete ein viel umfassenderer Gedächtnisverlust auf, zum Beispiel bei lang andauerndem Missbrauch, Folter oder Aufenthalt in einem Konzentrationslager. »All diese konvergierenden Studien«, schreibt van der Hart, »bestätigen das Vorhandensein totaler Amnesie bei traumatischen Erlebnissen.«
Anmerkung
Er fügt selbst hinzu, dass es sich um klinische Studien handelt, an denen aus experimentell-psychologischer Sicht vielleicht einiges auszusetzen sei. Das ist in der Kontroverse um Verdrängen tatsächlich ein Teil des Problems. Mediziner und Experimentalpsychologen – um sie generalisierend einmal so zubezeichnen – wenden verschiedene methodologische Stile an. Mediziner berichten ihre Befunde häufig in Form von Fallstudien, ein Untersuchungstyp, der unter Experimentalpsychologen einen geringen Status hat. Ein Patient ruft die Frage auf, wie generalisierbar sein spezifischer Fall ist, ihn nachzustellen ist ausgeschlossen, die Überprüfung durch andere als den Therapeutenforscher ist beschränkt. Von Studien dieser Art wird häufig behauptet, sie seien keine ›echte Wissenschaft‹. Experimentalpsychologen erwarten daher mehr von Studien mit einer größeren Anzahl von Versuchspersonen unter genau kontrollierten Bedingungen, werden dann aber wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, sie untersuchten keine ›echten Traumata‹. In der Diskussion über wiedergefundene Erinnerungen lässt sich auf diese Weise eine für Wissenschaftsforscher vertraute Wendung beobachten: Meinungsverschiedenheiten über Fakten verwandeln sich in
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