Das Buch des Vergessens
Befragten zwei mit Ja oder Nein zu beantwortende Fragen vor:
Glauben Sie, dass ›Verdrängen‹ – das lang andauernde Vergessen traumatischer Ereignisse – vorkommt?
Halten Sie es für möglich, dass Sie selbst ein traumatisches Ereignis verdrängt haben?
Anmerkung
Eine Gruppe der Befragten bestand aus 134 Studenten und Lehrenden der Maastrichter Rechtsfakultät, ›den Juristen‹. Eine zweite, gleich große Gruppe bestand aus Psychologen, Orthopädagogen, Kinderärzten und Sozialarbeitern, die an einem Kongress über sexuellen Missbrauch an Jugendlichen teilnahmen, ›den Psychologen‹. Bei den ›Juristen‹ gaben 87 Prozent an, zu glauben, dass Verdrängen vorkommt. Bei den ›Psychologen‹ lag dieser Prozentsatz noch etwas höher, bei 95 Prozent. Sogar unter Fachkollegen – zumindest diesen Fachkollegen – ist die Auffassung von Merckelbach und Wessel also ein ausgesprochener Minderheitenstandpunkt. Aber die wirkliche Überraschung steckte in der Antwort auf die zweite Frage. Nur 56 Prozent der ›Juristen‹ und 47 Prozent der ›Psychologen‹ glaubten, sie selbst könnten etwas verdrängen. Das ist ein seltsames Ergebnis. Ungefähr die Hälfte der Befragten ist offensichtlich der Ansicht, Verdrängen sei etwas, das andere tun, aber ihnen selbst werde es nicht so schnell passieren. Dieses Ergebnis relativiert das massive ›Ja‹ auf die Frage, ob Verdrängen existiert, erheblich, aber alles in allem glaubte etwa die Hälfte der Befragten an Verdrängen als eine allgemeine Eigenschaft des menschlichen Gedächtnisses. In einer späteren Studie von Merckelbach und Wessel zur Auffassung der Psychotherapeuten stellte sich heraus, dass 96 Prozent davon überzeugt waren, Verdrängen existiere, und 84 Prozent, es verursache psychologische Probleme.
Anmerkung
Das reale Vorhandensein nicht des Verdrängens, sondern des Glaubens an Verdrängen ist auch in konkreten Rechtsfällen aufzuzeigen. 1995 war der Gedächtnispsychologe Wagenaar als Sachverständiger in eine zivilrechtliche Angelegenheit einbezogen, in der eine Frau von ihrem Bruder 50 000 Gulden Schmerzensgeld wegen einer Vergewaltigung verlangte, die einunddreißig Jahre zuvor stattgefunden haben sollte.
Anmerkung
Sie war damals vier Jahre alt, ihr Bruder zwölf. Wagenaar stellte fest, dass in diesem Fall beide Parteien ihre gegensätzliche Argumentation auf die Frage nach der Authentizität ›wiedergefundener Erinnerungen‹ stützen können. Die eine Partei sieht den Beweis darin, dass Erinnerungen jahrzehntelang unzugänglich sind und durch therapeutische Intervention zurückgeholt werden können. Für die andere Partei beweist dieselbe Geschichte den konstruierten Charakter solcher ›Erinnerungen‹. Beide Parteien mobilisieren Sachverständige, die ihre Version im Gerichtssaal mit wissenschaftlicher Evidenz versehen – gemäß dem von Crombag und van Koppen skizzierten Szenario, das darauf hinausläuft, dass der Richter auf sich selbst angewiesen ist, wenn er aus den widersprüchlichen Erklärungen die ›richtige‹ auswählen muss. Nach dem Urteil kann eine der beiden Parteien den Fall als Unterstützung für die eigene theoretische Orientierung verbuchen. Auf diese Weise, beschließt Wagenaar, entsteht eine heillose Form der Zirkularität: Das Urteil liefert die Unterstützung für die Theorie, die zum Urteil führte. Das Thomas-Theorem: Überzeugungen haben reale Konsequenzen.
Crombag und van Koppen beschrieben Verdrängen als »die unfreiwillige und abrupte Verbannung der Erinnerung an ein traumatisches Ereignis aus dem autobiografischen Gedächtnis, wodurch die Erinnerung lange Zeit nicht mehr bewusst gemacht werden kann.«
Anmerkung
Das ist eine Definition, die Assoziationen einzufangen versucht, die heutzutage mit ›Verdrängen‹ verbunden sind. Aber sie unterstreicht auch, was sich hundert Jahre nach Freuds erster Beschreibung von Verdrängen verändert hat. Die Definition von Crombag und van Koppen engt die Ursache des Verdrängens auf Trauma ein, bei Freud werden auch verbotene Sehnsüchte oder Schuldgefühle verdrängt. Die Assoziation mit Hysterie, bei Freud noch sowohl Ursache als auch Wirkung, ist vollkommen verschwunden. Auch die Beispiele, die Crombag und van Koppen anführen, um zu erläutern, weshalb es vernünftig ist, herauszufinden, was zukünftige Juristen über die Existenz von Verdrängen denken, kennzeichnen sehr genau die Zeit, in der ihr Artikel erschien: Die Kontroverse über ›wiedergefundene
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