Das Buch des Vergessens
derselben.«
Anmerkung
Ein guter Analytiker sollte über eine gewisse Unbeirrbarkeit verfügen.
Nach der klassischen Psychoanalyse hatte der Patient die Befehlsgewalt über seinen Geist verloren. Diese wiederherzustellen war die Aufgabe des Analytikers, der dank seiner Kenntnisse des Unbewussten und der Art und Weise, wie das dorthin verdrängte Material zum Ausdruck gelangen konnte, den Patienten besser kannte als dieser sich selbst. Er beherrschte die Symbolsprache, konnte Träume deuten, verstand den Ursprung von Versprechern. Sogar wenn der Patient etwas vergessen hatte, konnte der Analytiker aus dem Umriss der Lücke noch erraten, wie die Erinnerung einst ausgesehen haben musste. All diese Deutungen waren allerdings – auch nach Freuds Ansicht – ebenso sehr Hypothesen. Sie mussten überprüft werden. Aber wie? Nicht anhand des Urteils des Patienten. Wenn Widerstand gegen eine Deutung nicht beweist, dass der Analytiker unrecht hat, kann die Zustimmung ebenso wenig als Argument für deren Gültigkeit akzeptiert werden. Dass das ›Nein‹ von Dora als ›Ja‹ ausgelegt werden konnte, bedeutete, dass ein eventuelles ›Ja‹ ebenfalls kein Gewicht mehr hatte.
Freud hatte nicht die Absicht, sich jeglicher Überprüfung zu entziehen. Diese Überprüfung hatte nur nicht die Gestalt, die wir heute als Gegenkontrolle ansehen würden. Für Freud war das Verschwinden der hysterischen Beschwerden nach einer Deutung, die er mit dem Patienten geteilt hatte, ein Hinweis dafür, dass die Deutung richtig gewesen war. Er muss sich zufrieden zurückgelehnt haben, als Dora mit dem nervösen Husten aufhörte, nachdem er erläutert hatte, durch welche verdrängte Fantasie die Beschwerden entstanden waren. Aber auch diese Form der Überprüfung ließ die Sache natürlich in der Schwebe. Beschwerden, die nach einer vom Analytiker als gelungen erfahrenen Deutung verschwinden, müssen nicht durch diese Deutung verschwunden sein, nicht bei Dora und nicht bei anderen Patienten. Umgekehrt brauchte die Persistenz einer Beschwerde nicht zu bedeuten, dass die Deutung ihrer Ursache falsch war.
Zu diesen Zweifeln an der Überprüfbarkeit psychoanalytischer Interpretationen fügt sich die Unsicherheit über den genauen Hergang des Verdrängens. Freud war nicht der Erfinder des Verdrängens – nicht ihrer Idee und nicht des Begriffs. Sein Biograf Ernest Jones wies diesen schon in den Texten des Philosophen Herbart Passagen aus dem Jahr 1824 nach, in denen dieser ›Verdrängung‹ beschreibt als die Abwehr von Vorstellungen aus dem Bewusstsein, die zu bereits vorhandenen Vorstellungen im Widerspruch stehen.
Anmerkung
Aber Freud gab dem Begriff eine spezifischere Bedeutung, auch wenn diese Spezifikation während seiner langen Forscherlaufbahn nicht immer dieselbe geblieben ist. In einem Artikel aus dem Jahr 1915, ›Die Verdrängung‹, gab er sich bereits große Mühe, das Verdrängen als nicht allzu kompliziert darzustellen. Das Wesen der Verdrängung, schrieb Freud und kursivierte selbst, besteht »nur in der Abweisung und Fernhaltung vom Bewussten«.
Anmerkung
Und weil das verdrängte Material irgendwohin muss, sind das Unbewusste und Verdrängen in gegenseitigen Begriffen definiert: Ohne Unbewusstes könne ein Trauma oder eine verbotene Sehnsucht das Bewusste nicht verlassen. Zweifellos in der Hoffnung, dies noch zu verdeutlichen, hat Freud eine ganze Reihe von Metaphern für das Verdrängen eingeführt. Im selben Artikel schrieb er, man könne sich das Verdrängen vorstellen wie das Herauswerfen eines ungebetenen Gasts aus dem Wohnzimmer. Man könne auch versuchen, ihm gleich den Zugang zu verweigern, und sicherheitshalber eine Wache vor die Tür setzen. Anderswo umschrieb Freud Verdrängen als ›Verbannen‹, ›absichtliches Vergessen‹, ›Abspalten‹, ›Dissoziation‹, ›Unterdrücken‹, ›Blockieren‹, ›Hemmen‹, ›Vermeiden, daran zu denken‹, ›Zurückziehen der Aufmerksamkeit‹ oder ›Ausschließen‹. Die ›Wache‹ ist in anderen Metaphern ein ›Zensor‹.
Anmerkung
Man kann Freud keinen Vorwurf machen, dass er Metaphern verwendet. Aber das Problem ist, dass diese Metaphern in ihrer Verschiedenheit immer wieder leicht variierende Assoziationen aktivieren. Bei ›Dissoziation‹ und ›Abspalten‹ scheint der Zugang zum Unbewussten verschwunden, sodass es für das verdrängte Material keinen Weg zurück gibt. Eine ›Wache‹ suggeriert jedoch gerade, dass das Bewusste vor den andauernden Versuchen des
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