Das Buch meiner Leben
hat, lassen sie alles stehen und liegen und zeigen einem den Weg. Und sie reden mit einem, freundlich und höflich, nicht wie diese da – er deutete zu den Bäumen und Büschen, hinter denen sich die schüchternen Amerikaner verbargen. Auf meine Frage, wie oft er nach Italien reise, antwortete er, nicht allzu oft. In Florenz habe er einen wunderbaren Ferrari, und es gebe dort viele neidische Leute. Sie schraubten die Räder ab, traten die Blinklichter ein, zerkratzen den Lack mit einem Nagel, einfach aus Boshaftigkeit. Er reise nicht gern nach Italien, die Italiener seien nicht sehr sympathisch. Als ich ihm vorsichtig in Erinnerung rief, dass er die Italiener gerade als unglaublich sympathisch bezeichnet habe, nickte er und rief, ja, ja, sehr sympathisch! Ich gab auf. Lido hatte anscheinend keine Mühe, zur gleichen Zeit zwei gegensätzliche Meinungen zu vertreten – eine Fähigkeit, dachte ich plötzlich, die unter Künstlern nicht selten ist.
Lido war in den Fünfzigern nach Chicago gekommen. In Florenz hatten er und sein Bruder alte Fresken und Gemälde restauriert, von denen es dort offenbar wimmelte. Nach ihrer Ankunft in Amerika überlegten sie, dass es hier bestimmt ebenfalls viele restaurierungsbedürftige Gemälde gab, und eröffneten eine Werkstatt. Lido wurde recht erfolgreich, konnte das Leben in vollen Zügen genießen. Er war mit der einen oder anderen Schönheit am Arm gesehen worden oder am Steuer seines amerikanischen Ferrari. Abgesehen von den Schönheiten hatte er offenbar mehrere Ehefrauen gehabt. Die letzte war um die achtzehn und, Gerüchten zufolge, eine Katalogbraut aus einem kleinen Ort in Mexiko.
Lido erklärte mir einmal, wie Dilettanten und Stümper die Decke der Sixtinischen Kapelle, das Meisterwerk Michelangelos, angeblich restauriert, tatsächlich aber ruiniert hatten. Obwohl ich von diesen Dingen rein gar nichts verstand, schilderte er mir detailliert, welche Schnitzer sich diese Leute geleistet hatten – beispielsweise hatten sie mit Schwamm und Lösungsmittel die Patina von den Fresken abgewischt. Ich solle mir das mal vorstellen, sagte Lido. Gehorsam stellte ich mir vor, wie der wehrlose Michelangelo mit einem Schwamm gewaschen wurde. Lido echauffierte sich immer mehr, so dass mir das Reinigen mit Schwamm und Lösungsmittel tatsächlich als ein Akt mutwilliger Zerstörung erschien – und Gott so blass, dass er kaum noch Macht besaß.
Die Dummköpfe, die die Restaurierung in Auftrag gegeben hatten, erkannten aber irgendwann, dass die Schöpfung nach Michelangelo ruiniert war, und baten Lido, die Sache in Ordnung zu bringen. Doch statt ihnen zu Hilfe zu kommen, antwortete Lido mit einer fünfseitigen wütenden Philippika. Sie hätten einfach nicht verstanden, sagte Lido, dass die Patina das wesentliche Element dieses Freskos sei, dass die Welt, die der Allmächtige an der Decke der Sixtinischen Kapelle erschaffen habe, unvollständig sei, solange die Wand die Farbe nicht vollständig aufgesogen habe, solange das Werk nicht ein wenig nachgedunkelt sei. Gott habe die Welt nicht an einem strahlend hellen Tag erschaffen, schimpfte Lido. Ohne Patina sei das Ganze einen Scheißdreck wert.
Lido saß, während er mir diese Geschichte erzählte, auf seinem Fußball (Größe 4, viel zu hart aufgepumpt), und vor lauter Empörung machte er eine falsche Bewegung, so dass er umkippte und auf der Erde landete. Ich half ihm wieder auf, spürte die alte Haut an seinem Ellenbogen, berührte seine private Patina.
Schließlich tauchten die schüchternen Amerikaner auf, und auch die übrigen Spieler erschienen, und Lido, der jede Missachtung Michelangelos und der Schöpfung persönlich nahm, trat als Stürmer an, jederzeit bereit, ein spektakuläres Tor zu erzielen.
Lidos Schöpfer, wer immer das ist, kann jedenfalls zufrieden sein. Lido war einer jener seltenen Menschen, die Vollkommenheit erreichen. Uns anderen blieb nur, uns im Dreck zu wälzen, durchgeschüttelt zu werden und uns eine Patina zuzulegen, in der Hoffnung, existieren zu dürfen, einfach so, bedingungslos.
Als ich Lido an diesem Tag den Ball zuspielte (wohl wissend, dass er ihn verschießen würde), hatte ich das wunderbare Gefühl, mit etwas verbunden zu sein, das weit über mich hinauswies, ein Gefühl, das all jenen fremd ist, die glauben, im Fußball gehe es um Fitness und Entspannung.
Das Leben der Großmeister
Ich weiß nicht mehr, in welchem Alter ich Schachspielen gelernt habe. Ich kann nicht älter als acht gewesen
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