Das Buch meiner Leben
Niederlagen, auch nicht daran, mich über seine Niederlagen gefreut zu haben. Auf dem Bildschirm meiner Erinnerung sitzt er immer nur über den Figuren, mit wippendem Knie, das umso schneller wippte, je schwieriger seine Position war. Er bewegt sich gern in seinem Innern, denke ich mir, löst Probleme gern im Laboratorium seines Ingenieurgehirns. Er liebt den Raum, in dem Vernunft und Logik herrschen. Er liebt mich.
Als Teenager besuchte ich einen mathematischen Schulzweig. Wir hatten rund zwölf Stunden Mathematik und Physik in der Woche, natürlich auf Kosten anderer Fächer. Wir lernten Differentialrechnung und imaginäre Zahlen, schlugen uns mit Quantenphysik und komplexen Funktionen herum, während unsere Mitschüler in dem » normalen « Zweig, die mit Mühe und Not Bruchrechnen konnten, sich in den sonnendurchfluteten, fruchtbaren Disziplinen von Kunst, Musik und Biologie tummelten und all das lernten, was Oberschüler eben lernen – nichts Besonderes.
Ich hatte mich für den mathematischen Zweig entschieden, weil mich die Relativitätstheorie faszinierte. Ich hatte mehrere populärwissenschaftliche Artikel über Einsteins Theorie und ihre atemberaubenden Konsequenzen gelesen (Raumzeit! Schwarze Löcher! Dunkle Materie!) und war zu dem Schluss gekommen, dass die Arbeit eines theoretischen Physikers darin besteht, die Sternenwelt zu betrachten und sich andere Welten vorzustellen. Das schien ein Beruf zu sein, der für mich in Frage kam. Auf der Oberschule zeigte sich aber bald, dass ich im Bereich des mathematischen Denkens nur improvisieren konnte, und fortan improvisierte ich eben.
Meine Klasse war eine nerdreiche Umgebung, in der die Zahl anschmiegsamer junger Damen tragischerweise gegen null tendierte. In den anderen Klassen gab es viel mehr von ihnen, alle waren unerreichbar für uns, abgestoßen von der dunklen Materie der Nerdiness, die wir ausstrahlten. Bald hatten wir auch unseren Spitznamen weg – » Gemüsehändler « . Das Addieren von Preisen war anscheinend das einzige Anwendungsgebiet, das die anderen sich für Mathematik vorstellen konnten.
In meiner Klasse waren ein paar talentierte Mathematiker und mindestens ein verrücktes Genie. Er hieß Mladen und war ausgesprochen uncool – er trug Pullover mit V-Ausschnitt und gebügelte Hosen, das Haar geföhnt und gescheitelt. Er war im Unterricht aufmerksam, fluchte nicht und verwendete keine Slangausdrücke, er interessierte sich weder für Fußball noch für Rock ’n’ Roll und war überhaupt ein netter Kerl, der auf das ganze Gehabe pubertierender Jünglinge verzichtete. Die Matheprobleme, mit denen wir uns herumplagten, waren für ihn ein Kinderspiel. Das helle und nüchterne Feld der Mathematik war sein Zuhause. Als wir während der Sportstunde einmal unsere Runden drehten, sagte er plötzlich neben mir: » Dein Weg ist länger als meiner. « Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. Daraufhin erklärte er, dass ich, weil ich rechts neben ihm lief, eine längere Strecke zurücklegte. Im selben Jahr gewann er eine Goldmedaille bei der Internationalen Mathematikolympiade in Washington, während ich den Fänger im Roggen las, mit dem Rauchen anfing, von Led Zeppelin zu XTC überging und mich ansonsten mit meiner schulischen Durchschnittlichkeit abfand.
Da wir keinen Zugang zu Mitschülerinnen und ihren Körpern hatten, spielten wir oft Schach, organisierten sogar Turniere. Wir spielten während des Unterrichts, was die Lehrer nicht groß kümmerte. Die Punktetabelle hing im Klassenzimmer aus, Mladen immer die Nummer eins, uns anderen haushoch überlegen. Er war so gut, dass er Blindpartien simultan gegen mehrere Gegner spielen konnte, manchmal sechs, und gleichzeitig ganz bei den Ausführungen des Lehrers war. Wir anderen riskierten einen Tadel, versteckten das Schachbrett unter dem Tisch, achteten nicht auf den Unterricht. Wir analysierten unsere Position und schickten ihm einen Zettel, auf dem, sagen wir, » Ke2-e4 « stand. Und Mladen reagierte sofort, ohne ein einziges Wort des Lehrers zu verpassen. Wir sahen sofort, was für ein brillanter Kopf er war und dass wir keine Chance hatten. Wir rächten uns, indem wir nachmachten, wie er den Hintern herausstreckte, wenn er in exakt parallelen Bahnen mit dem Schwamm über die Tafel fuhr.
Der Einzige, der es mit Mladen auch nur annähernd aufnehmen konnte, war Ljubo. Wir kannten uns seit der Grundschule. Damals, als ich den George in einer Beatles-Band markiert hatte, war er Ringo gewesen.
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