Das Buch meiner Leben
sein, denn ich habe noch immer den Kasten, auf dessen Rand mein Vater mit einem Lötkolben die Inschrift » Saša Hemon 1972 « anbrachte. Dieses Schachbrett war mir lieber als das Schachspielen selbst – denn es war eines meiner ersten Besitztümer. Seine Beschaffenheit verzauberte mich, der Geruch von versengtem Holz, der sich noch lange hielt, nachdem mein Vater die Inschrift eingebrannt hatte. Das Klappern der lackierten Figuren im Innern des Kastens, das Geräusch, das sie beim Aufstellen machten, der hohle Klang des hölzernen Kastens. Ich erinnere mich sogar an den Geschmack – die Spitze der Königin war angenehm auf den Lippen, die runden, nippelartigen Köpfe der Bauern schmeckten süß. Das Schachbrett ist in unserer Wohnung in Sarajevo, und auch wenn ich seit Jahrzehnten nicht mehr darauf gespielt habe, so ist es noch immer mein liebster Besitz, unwiderleglicher Beweis, dass einmal ein kleiner Junge namens Saša Hemon lebte.
Vater und ich haben immer nur auf diesem gekennzeichneten Schachbrett gespielt. Meine Aufgabe war es, die Figuren aufzustellen, nachdem er mir die beiden Fäuste hingehalten hatte, damit ich zwischen Weiß und Schwarz wählte. Meistens tippte ich auf die Hand mit der schwarzen Figur, und Vater lehnte es strikt ab, in Verhandlungen mit mir einzutreten. Wir spielten, und jedes Mal verlor ich. Meine Mutter missbilligte, dass er mich nie gewinnen ließ, denn sie war der Ansicht, dass Kinder die Genugtuung des Siegs erlebt haben mussten, um später erfolgreich zu sein. Mein Vater war dagegen der festen Überzeugung, dass alles im Leben verdient werden musste und die Siegessehnsucht einem half, Erfolg zu haben. Als Ingenieur, der rationale Fakten über alles stellte, glaubte er an Erkenntnisse, die durch Probieren und Scheitern gewonnen wurden – selbst wenn es, wie in meinem Fall, ausnahmslos Scheitern war.
Ich hätte es damals nicht zugegeben, aber eine Unterstützung von seiner Seite hätte mir gutgetan. Das heißt, Vater sollte mich gewinnen lassen, aber so, dass ich nichts davon merkte. Ich konnte nicht mehr als einen oder zwei Züge vorausdenken (meine Lieblingssportarten waren ja Fußball und Skifahren, wo man Entscheidungen durch blitzschnelles Improvisieren trifft). Ich scheiterte regelmäßig, mein König war jedes Mal hoffnungslos isoliert, oder ich erkannte nicht, dass es im nächsten Moment die Königin erwischen würde. Immer wieder fiel ich auf die Tricks meines Vaters herein und fügte mich, um mir weitere Demütigungen zu ersparen, viel zu rasch in mein Schicksal. Vergeblich, denn Vater ging noch einmal all die Schritte mit mir durch, die zu meiner Niederlage geführt hatten. Er brachte mich dazu, konzentrierter bei der Sache zu sein und nachzudenken – auch in anderen Lebensbereichen – Sport , Familie, Hausaufgaben. Er schenkte mir ein Lehrbuch (ausgerechnet das von Isidoras Vater), und Schritt für Schritt analysierten wir die Spiele der berühmten Meister – Lasker, Capablanca, Aljechin, Tal, Spasski, Fischer und andere. So geduldig Vater auch war, für die wunderbaren Möglichkeiten einer klugen Eröffnung oder eines raffinierten Opfers hatte ich keinen Blick. Er wollte mir eine viel zu ferne Welt zeigen, deren mysteriöse Tröstungen in einer nebulösen Zukunft lagen. Die Spiele der Großmeister durchzugehen war wie Schulunterricht – hin und wieder interessant, meistens jedoch furchtbar mühselig. Trotzdem versuchte ich, wenn ich allein war, vor der nächsten Partie den einen oder anderen Trick zu lernen und meinen Vater damit zu überraschen. Aber jedes Mal stieß ich rasch an die Grenzen meines abstrakten Denkvermögens. Dass Berühmtheiten wie Capablanca, Aljechin und Fischer überzeugte Einzelgänger waren, machte die Sache nicht besser. Ich war noch kein Schriftsteller und wusste nichts von Künstlern, die mit großer Hingabe Kunstwerke hervorbringen. Und meine Umwelt war eine einzige Ablenkung – hübsche Mädchen, Romane und Comics, meine wachsende Plattensammlung, Nachbarsjungen, die pfeifend unter dem Fenster standen und riefen, ich solle zum Fußballspielen kommen.
Verglichen mit anderen gleichaltrigen Jungs war ich aber gar nicht so schlecht. Die Partien, die ich mit meinen Freunden spielte, bestanden meist aus stümperhaften und planlosen Zügen, doch ich habe oft gewonnen. Schach spielten wir wie alles andere auch – unbekümmert, achtlos und in Gedanken schon bei der nächsten Unternehmung. Gewinnen war besser als Denken, und Verlieren
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