Das Buch meiner Leben
gefiel mir überhaupt nicht. Ich hatte mir ein Repertoire an Standarderöffnungen und Angriffsstrategien zurechtgelegt und suchte mir Gegner aus, die ahnungslos in meine lehrbuchmäßigen Fallen gingen. Trash Talk war mir wichtiger als die Schönheit brillanter Kombinationen.
Einmal, als ich in der vierten Klasse war, sollte unsere Schule an einem Turnier teilnehmen. Also wurde ein Lehrer bestimmt, der das Auswahlverfahren durchführen würde. Ich meldete mich. Ich wollte es ganz allein schaffen, aber dummerweise erzählte ich meinem Vater davon, so dass er an dem betreffenden Tag, einem Samstag, mit in die Schule kam. Der Lehrer, der sich nicht sonderlich für Schach interessierte, gab ihm freie Hand, ließ ihn die Tische umstellen und die Punktetabelle an die Tafel schreiben. Mein eifriger Vater kümmerte sich um alles, er war überhaupt der einzige anwesende Vater. Wie ein Riese stand er inmitten der Tische und Stühle im Klassenzimmer. Jeder wusste, wessen Vater er war.
Ohne seine Anwesenheit hätte ich bei dem Auswahlverfahren wahrscheinlich besser abgeschnitten. Ich spürte, wie er mir prüfend über die Schulter blickte; er starrte immerfort auf das Brett, und ich stellte mir meine Fehler und Chancen aus seiner Sicht vor, sah aber nichts. Weil das eigene Glück oft Ergebnis der Fehler anderer ist, konnte ich ein paar Partien gewinnen. Vielleicht lenkte mein Vater die anderen Kids noch mehr ab als mich und schüchterte sie mit seiner stummen Präsenz ein.
Jedenfalls schaffte ich es in die Schulmannschaft, und ein paar Wochen später fuhren wir mit dem Bus zu einer Blindenschule in Nedžarići, einem Viertel, das damals praktisch eine andere Stadt war, so weit entfernt war es von dem meinen. Ich war als fünfter von acht Spielern eingeteilt worden, doch wie sich herausstellte, wurden nur vier Spieler benötigt. Ich trieb mich die ganze Zeit in den düsteren Korridoren der Blindenschule herum und schaute gelegentlich bei dem Turnier vorbei, nur um festzustellen, dass meine Mitschüler bei den blinden Kids nicht die geringste Chance hatten. Ich hätte so gern mitgespielt, aber als ich das Gemetzel sah, war ich heilfroh, dass mir das erspart blieb. Die blinden Schüler saßen ernst und konzentriert da, nahmen eine der Figuren, deren Unterseite mit einem Stift versehen war, fuhren mit den Fingern über das Schachbrett und steckten die Figur in ihre neue Position.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie Schach für sie sein mochte, eine Innenwelt, in der alle Kombinationen, alle Angriffslinien und Verteidigungspositionen deutlich umrissen waren. Was ich stattdessen sah – und sie, wie ich dachte, nicht sehen konnten –, war die banale Solidität einer unumgänglichen physischen Realität, die unabweisbare Modalität des Sichtbaren, über die ich nicht hinaussehen konnte. Ich agierte in der Außenwelt, zog mich in meine Innenwelt nur zurück, wenn ich las. Die Welt in ihrer ganzen abgedroschenen hartnäckigen Konkretheit war für mich nie ganz aufgehoben. Wenn ich beispielsweise mit meinem Vater spielte, lenkte mich seine körperliche Präsenz furchtbar ab. Nie konnte ich das Spiel von unserem Verhältnis und allen anderen Dingen trennen, die ringsum geschahen – sein hektisch wippendes Knie, seine großen Hände und die flachen, breiten Daumen, mit denen er die Figuren entmutigend selbstsicher bewegte, sein Nicken, wenn er Chancen sah, die mir völlig entgingen, der Essensgeruch aus der Küche, meine Mutter, die im Hintergrund herumwuselte und meinen Vater wieder einmal anflehte, mich nicht schachmatt zu setzen. Woraufhin er mich schachmatt setzte.
Natürlich kam es dann dazu, dass ich seine Spieleinladungen jedes Mal ablehnte – mit dem Hinweis, ich müsse noch lernen und sei noch nicht so weit. Doch wenn er gegen seinen Studienfreund Ćika Ž arko spielte, schaute und hörte ich aufmerksam zu. Nicht ohne Schuldgefühle drückte ich Ćika Ž arko die Daumen. Mein Vater sollte verlieren, damit er verstand, wie es mir erging, wenn er gegen mich spielte. Er wollte mir alles beibringen, was er wusste, aber ich wollte, dass er die Dinge aus meiner Warte sah – vielleicht ist Liebe ja der Prozess, in einer gemeinsamen Auffassung von Realität zusammenzufinden. Ich wünschte mir, ihm solle klar sein, dass es weit mehr verkehrte als richtige Züge gibt, dass richtige Entscheidungen erschreckend unzuverlässig sind und dass Niederlagen uns verbinden. Heute erinnere ich mich natürlich nicht mehr an seine Siege oder
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