Das Buch meiner Leben
dreijährigen Ewigkeit trat ich wieder gegen einen Fußball. An diesem Tag spielte ich also, zwölf Kilo schwerer, mit kurzen Jeans und Basketballschuhen. In null Komma nichts hatte ich mir eine Lendenzerrung zugezogen und Blasen an den Fußsohlen. Ich spielte bescheiden Verteidiger (obwohl Stürmer mir lieber gewesen wäre) und folgte strikt den Anweisungen des besten und schnellsten Spielers meiner Mannschaft, der Philip hieß und, wie ich später erfuhr, bei den Olympischen Spielen von Seoul in der nigerianischen 4 x 400-m-Staffel gelaufen war. Nach dem Spiel fragte ich ihn, ob ich wiederkommen könne. Frag den da, sagte Philip und zeigte auf den Schiedsrichter. Der trug ein schwarzweiß gestreiftes Hemd und hieß German. Er sagte, dass an jedem Samstag und Sonntag gespielt werde und ich jederzeit willkommen sei.
Der tibetische Torhüter
German war übrigens kein Deutscher – er kam aus Ecuador, aber sein Vater war gebürtiger Deutscher, daher sein Name (Hermann) und Spitzname. Er war Mitte vierzig, braungebrannt, trug Elvis-Tolle und Schnurrbart und arbeitete als Fahrer bei UPS . Jeden Samstag und Sonntag kam er gegen 14 Uhr in einem uralten, klapprigen Lieferwagen angefahren, auf den er einen Fußball und den Spruch KICK ME MAKE MY DAY gemalt hatte, entlud Torpfosten (aus Plastikrohren) und Netze, haufenweise einfarbige T-Shirts und Bälle. Die Shirts waren für die Jungs, die zum Spielen erschienen. Auf die Mülltonne legte er ein Brett und stellte ein paar billige Pokale und Trophäen darauf, Fähnchen verschiedener Länder sowie ein Radio, aus dem Spanisch sprechende Stimmen plärrten. Die meisten Spieler lebten in Uptown und Edgewater. Sie kamen aus Mexiko, Honduras, El Salvador, Peru, Chile, Kolumbien, Belize, Brasilien, Jamaika, Nigeria, Somalia, Äthiopien, dem Senegal, Eritrea, Ghana, Kamerun, Marokko, Algerien, Jordanien, Frankreich, Spanien, Rumänien, Bulgarien, Bosnien, USA , der Ukraine, Russland, Vietnam, Korea und so weiter. Es gab sogar einen Tibeter, der ein erstklassiger Torhüter war.
Da meistens mehr als zwei Mannschaften vorhanden waren, wurde ständig rotiert, jedes Spiel dauerte eine Viertelstunde oder so lange, bis eine Mannschaft zwei Tore erzielt hatte. Alle waren eifrig bei der Sache, da die siegreiche Mannschaft für das nächste Spiel auf dem Platz blieb, während das Verliererteam am Spielfeldrand auf seine nächste Chance warten musste. German fungierte als Schiedsrichter, pfiff aber kaum ein Foul. Glasigen Blicks folgte er dem Spiel, als wäre es eine Droge für ihn, und erst beim Geräusch aufeinanderkrachender Knochen schien er eingreifen zu wollen. Wenn in einem Team der elfte Mann fehlte, sprang er ein und spielte und pfiff gleichzeitig. In solchen Situationen war er besonders streng mit sich. Einmal zeigte er sich wegen allzu harten Dazwischengehens die gelbe Karte. Wir – fest entschlossen, uns als Einwanderer in diesem Land zu behaupten – spielten nach unseren eigenen Regeln, was uns das tröstliche Gefühl gab, Teil einer größeren Welt zu sein. Wir riefen uns nach unserem Herkunftsland. Eine Zeitlang hieß ich Bosnien, andere Mittelfeldspieler hießen beispielsweise Kolumbien oder Rumänien.
Weil ich so scharf aufs Mitspielen war und Angst hatte, bei zu spätem Erscheinen nicht mehr berücksichtigt zu werden, kam ich oft als Erster, lange vor den anderen, half German beim Aufstellen der Tore, und dann hingen wir herum und fachsimpelten. German hatte in seinem irren Lieferwagen Alben mit Fotos von allen, die mit ihm gespielt hatten. Einige kamen mir bekannt vor, obwohl sie inzwischen viel älter waren. Einer, zu dem alle nur Brasilien sagten, erzählte mir, er spiele seit mehr als zwanzig Jahren in Germans Truppe. German habe damals alles organisiert, obwohl er Drogen- und Alkoholprobleme hatte und für eine Weile auch ausstieg. Doch dann sei er wieder aufgetaucht, erzählte Brasilien. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Chicago verstand ich, dass man in Amerika leben und zugleich eine Geschichte haben konnte, die man mit anderen teilte.
Mir war nicht klar, warum German das alles machte. Auch wenn ich mich für einen halbwegs großzügigen Menschen halte, könnte ich mir nicht vorstellen, jedes Wochenende Fußballturniere zu organisieren und Schiedsrichter zu sein, dumme Sprüche und anderes ertragen zu müssen, die Tore abzubauen und in den Lieferwagen zu laden, nachdem alle anderen gegangen waren, und zu Hause einen Haufen verschwitzter T-Shirts in die
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