Das Buch Ohne Gnade: Roman
wir reinkamen«, stellte Sanchez mit zitternder Stimme fest. Ein Würgen stieg wieder in ihm hoch.
»Ich glaube, ich habe einen der Typen gestreift, als ich aus der Kabine geklettert bin.«
»Scheiße! Was zur Hölle ist in diesem verdammten Laden imGange?« Sanchez war aus seiner Bar, dem Tapioca, den Anblick von Toten gewöhnt, aber so etwas gehörte nicht in ein teures, seriöses Hotel. In diesem Laden fand man Leichen, wohin man schaute.
Der Tote an der Wand trug einen schmuddeligen Pullover und ausgefranste Jeans. Sein Gesicht war mit Blut besudelt, das größtenteils von seiner gebrochenen Nase und einigen herausgebrochenen zähnen stammte. Das fettige Haar war ebenfalls mit dunkelroten Strähnen durchsetzt. Der grässliche Anblick erhielt eine Steigerung durch die Augen, die sich, obgleich offen, so weit verdreht hatten, dass von ihnen nur noch das Weiße zu sehen war. Wenigstens war er kein Gaffer wie Otis Redding. Sanchez vergeudete nicht allzu viel Zeit damit, ihn anzustarren. Der andere Typ auf dem Boden war ein wenig älter und hatte volles dunkles Haar. Seine Augen hatten sich ebenfalls verdreht und seine Frisur war völlig in Unordnung. Während Sanchez ihn betrachtete, legte Elvis ihm eine Hand auf die Schulter.
»Weißt du eigentlich, wer das ist?«
»Hä?«
»Kurt Cobain und Johnny Cash. Zwei von den Typen auf der Todesliste in dem Umschlag.« Natürlich hatte er Recht. Sanchez konnte nicht fassen, dass er es nicht erkannt hatte.
»Scheiße. Dieser Balls muss die beiden hier ebenfalls alle gemacht haben. Donnerwetter.«
»Ja. Wir müssen schnellstens von hier verschwinden, Sanchez. Wir sind jetzt in einer Toilette zusammen mit den ersten drei Opfern von der Todesliste. Wenn uns jemand hier findet, vor allem nachdem wir dabei gesehen wurden, wie wir den guten alten Otis durch die Gegend geschleift haben, stecken wir ganz tief in der Scheiße.«
Auch das war richtig. Dies war wirklich nicht der angenehmste Aufenthaltsort, und obgleich sie an alldem nicht die geringste Schuld traf, waren sie die Hauptverdächtigen. Hinzu kam, dass Elvis ein professioneller Mörder war.
Aber ehe sie Gelegenheit hatten, sich aus dem Staub zu machen, hörten sie, wie die Tür zur Toilette aufging. Elvis packte Sanchez am Arm und zerrte ihn in Kabine drei. Er schloss die Tür hinter sich und rückte den anderen Mann auf den Toilettensitz. Der entsetzte Barbesitzer war klug genug, keinen Ton von sich zu geben, aber Elvis legte trotzdem einen Finger auf die Lippen und schüttelte beschwörend den Kopf. Sanchez fand das höchst überflüssig. Er wusste selbst, wann er sich still zu verhalten hatte. Er wollte einen entsprechenden Kommentar abgeben, jedoch hörten sie in diesem Moment die Schritte von zwei Männern auf dem Fliesenboden des Toilettenraums. Während sie offensichtlich zu den Urinalen gingen, hoffte Sanchez inständig, dass die neuen Besucher das Blut nicht entdeckten, das aus Kabine zwei hervorsickerte, und beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
ACHTZEHN ♦
Emily hatte Jahre damit verbracht, sich auf diesen, ihren großen Moment vorzubereiten: die Chance, sich einen Namen zu machen und sich einen Vertrag als Bühnenstar im Hotel Pasadena zu erkämpfen. Sie wünschte sich, ihre Mutter wäre da, um an dem aufregenden Ereignis teilhaben zu können. Sie in ihrer Nähe zu wissen, hätte ihr auch geholfen, halbwegs die Ruhe zu bewahren.
Ihre Mutter Angelina war viele Jahre lang als erfolgreiche Varietékünstlerin herumgereist, und Emily hatte schon sehr früh den Wunsch gehabt, so wie sie zu sein und ein Publikum zu verzaubern. Schon als junges Mädchen hatte sie dank der Reisen ihrer Mutter schon sehr viel von der Welt gesehen. Es war eine wundervolle Jugend gewesen, in der sie tausende von interessanten Menschen aus allen Bereichen des Lebens kennengelernt hatte. Gerne erinnerte sie sich daran, wie gut sie sich stets mit dem Hotelpersonal verstanden hatte und wie beeindruckt die Angestellten immer vom Gesang ihrer Mutter gewesen waren. Angelina sang wunderschön und verfügte über eine erstaunliche stimmliche Ausdruckskraft. Ihre Wandlungsfähigkeit versetzte sie in die Lage, viele alte klassische Songs fast genauso darzubringen wie die ursprünglichen Interpreten, ganz gleich wie schwierig es war. Auf den Bühnen jedoch, auf denen ihr größere Freiheit gewährt wurde, konnte sie die Songs auch auf ihre eigene Art und Weise Interpretieren und tat dies auch nicht weniger überzeugend als ihre
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