Das Buch Ohne Gnade: Roman
Vorbilder.
Sie hatte Emily von ihrer frühesten Kindheit an stets ermutigt, in ihre Fußstapfen zu treten, und war ihr eine gewissenhafte Lehrerin gewesen. Vor allem erinnerte Emily sich daran, wie sie oft in den Kulissen stand, ihrer Mutter bei ihren Auftritten zuhörte und zusah und sich wünschte, sie könne genauso sein wie sie. Jetzt bekam sie die Chance dazu.
Ihre gemeinsame Reisezeit hatte vor zwei Jahren ihr Ende gefunden. Angelina war, wie sie anfangs annahm, an einer Halsinfektion erkrankt, doch es stellte sich als etwas viel Schlimmeres heraus. Nach Monaten, in denen sie immer wieder versucht hatte aufzutreten, es jedoch entweder gar nicht konnte oder Vorstellungen ablieferte, die weit unter ihrem Standard lagen, musste sie feststellen, dass sie Kehlkopfkrebs hatte. Sie war erst siebenundvierzig Jahre alt. Beide Frauen waren am Boden zerstört.
Emily übernahm sofort die Rolle der Ernährerin ihrer kleinen Familie, doch nahezu jeder Cent, den sie verdiente, wurde für die Pflege ihrer Mutter ausgegeben. Und es reichte nicht aus. Schlimmer noch, ihre eigene Gesangskarriere stagnierte, weil Angelina zu krank war, um auf Reisen zu gehen. Daher hatte Emily im letzten Jahr an jedem noch so obskuren Gesangswettbewerb östlich von Little Rock teilgenommen in der Hoffnung, den großen Durchbruch zu schaffen. Und wenn sie nicht sang, arbeitete sie in Fast-Food-Restaurants, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.
Mit einer aus Verzweiflung geborenen Hoffnung wusste Emily, dass sich ihr nun die Chance bot zu beweisen, dass sie tatsächlich in jeder Hinsicht fähig war, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Noch besser wäre sicherlich, dass, wenn sie den Back-From-The-Dead -Gesangswettbewerb gewann, ihre Geldsorgen ein Ende hätten. Und sie wäre ein Star. Genauso wie ihre Mom. Ihre Mutter hatte sie stets mit unerschütterlicher Beharrlichkeit unterstützt, hatte sie gedrängt, nach den Sternen zu greifen, und mit dieser Erinnerung und trotz ihrer Nervosität empfand sie einen unsäglichen Stolz, während sie auf ihren Auftritt wartete. Getrübtwurde dieses Gefühl nur durch ihre Trauer darüber, dass ihre Mutter sie niemals auf der Bühne erleben würde.
Teilnahmsvoll verfolgte sie von der Seitenbühne aus, wie ein John-Lennon-Imitator den Tite. »Imagine« verhunzte. Sie hätte sich eigentlich kein besseres Vorprogramm für ihren eigenen Auftritt wünschen können, trotzdem empfand sie aufrichtiges Mitleid mit ihm. Sie hatte mitbekommen, wie nervös er gewesen war, ehe er die Bühne betrat. Offensichtlich hatte er sich von seiner Nervosität überwältigen lassen, denn bereits in der ersten Textzeile des Songs traf er einen falschen Ton. Es hatte einige schlimme Auftritte während der Show gegeben, aber seiner war wohl der bei Weitem schlechteste. Zudem half es ihm in keiner Weise, dass die Jury ihn noch lange weitersingen ließ, obgleich sie seine Darbietung eigentlich hätte abbrechen sollen. Viele bessere Sänger und Sängerinnen hatten ihre Darbietung schon nach zwanzig oder dreißig Sekunden beenden müssen. Doch dieser arme Kandidat musste fast genauso lange singen wie Otis Redding, damit das Publikum sich länger als nötig an seinem Elend weiden konnte.
Als der letzte Ton verklang, war das Urteil der Juroren verständlicherweise vernichtend. Emily taten die verletzenden Kommentare, mit denen sie ihn überschütteten, in der Seele weh.
»Schätzchen, meine Katze singt genauso«, war das schlimmste Urteil der ansonsten eher wohlwollenden Lucinda.
Um sich an Bösartigkeit nicht überbieten zu lassen, folgte Candy mit: »Meine Katze singt sogar besser !«
Nigel versetzte ihm dann den Todesstoß, indem er betont genervt sagte. »Ich habe gedacht, meine Katze hat sich soeben erhängt.«
Vielleicht waren die gehässigen Bemerkungen sogar ein Glück im Unglück, denn Emily sah zu ihrer Erleichterung, dass der junge Mann dem Publikum aufrichtig leidtat. Seine Nerven hatten ihm auch schon ohne die Gemeinheiten der Juroren genügend Schaden zugefügt. Daher war es ein gewisser Trost, hören zu können,wie Teile des Publikums die Kommentare der Juroren mit lauten Buhrufen quittierten. Dennoch stand eins zweifelsfrei fest: John Lennon würde es ganz sicher nicht bis ins Finale schaffen.
Während der am Boden zerstörte Beatle-Imitator die Bühne verließ, lächelte er Emily kurz an. Sie konnte erkennen, dass er kurz davor war, in Tränen auszubrechen.
»Das nächste Mal schneidest du ganz bestimmt besser
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