Das Buch Ohne Gnade: Roman
ab«, sagte sie mit einem tröstenden Blick.
»Ich glaube, ich mache mich auf die Suche nach Nigel Powells Katze und borge mir ihren Strick aus.«
Es erschien unpassend, über seinen Scherz zu lachen, aber auch unhöflich, es nicht zu tun, daher behielt Emily ihr mitfühlendes Lächeln bei und blickte gleichzeitig auf ihre Schuhe, um jeden weiteren Augenkontakt zu vermeiden.
Auf der Bühne war Nina Forina, die Präsentatorin der Show, damit beschäftigt, das Publikum anzuheizen und darauf vorzubereiten, dass Emily als Nächste auftreten würde. Nina war eine bezaubernde Blondine Anfang dreißig. Sie trug ein langes glänzendes Silberlamékleid, das ihre Schlankheit betonte und den Eindruck vermittelte, dass sie keinerlei weibliche Kurven besaß. Außerdem trug sie die gleiche orangefarbene Sonnenbräune zur Schau, die wahrscheinlich aus derselben Quelle stammte wie Nigel Powells.
Während Nina die Zuschauer mit launigen Bemerkungen in Stimmung brachte, entdeckte Emily einen Mann, der links von ihr im Schatten stand. Er starrte wie gebannt auf irgendetwas, das sie an sich hatte. Sie fühlte sich anfangs geschmeichelt, doch die Art, wie er sie ansah, hatte etwas Beunruhigendes. Er bemerkte anscheinend gar nicht, dass sie sein Starren bemerkt hatte, und jedes Mal, wenn sie wegsah, wusste sie, dass er den Blick immer noch auf sie gerichtet hatte, wenn sie wieder zu ihm hinüberschaute.
Nach einer Weile erkannte sie, dass sein Interesse weniger ihr selbst als ihrem Kleid galt. Verunsichert schaute sie an sich herab, um nachzusehen, ob sie möglicherweise einen hässlichenFleck auf ihrem Bühnenkostüm hatte. Aber alles schien in Ordnung zu sein. Auch ihre Schuhe waren okay. Sie glänzten immer noch, denn sie hatte sie erst vor einer halben Stunde noch einmal auf Hochglanz poliert. Sie waren ein wichtiger Teil ihres Kostüms und sie warf nacheinander einen kurzen Blick über jede Schulter, während sie ihre Highheels nacheinander hochhob, um nachzusehen, ob irgendetwas an ihren Sohlen klebte. Sie waren makellos sauber.
Emily war, auch ohne dass der Fremde sie ständig angaffte nervös genug und beschloss, teils um ihre Nerven zu beruhigen, auch ihre Zöpfe zu überprüfen, obgleich ihnen der Mann keine Beachtung schenkte. Sie hatte große Sorgfalt darauf verwandt, ihr Haar zu flechten, sodass es vor ihren Schultern auf ihre Brust herabhing. Sie war überzeugt, dass sie genauso aussah, wie es ihr vorschwebte. Aber der Bewunderer – falls er wirklich so etwas war – erschütterte ihre Selbstsicherheit, ganz gleich ob es seine Absicht war oder nicht. Sie hatte ihre äußere Erscheinung an die einhundert Mal im Spiegel in der Garderobe überprüft, um sicherzugehen, dass sie nichts übersehen hatte. Also warum starrte sie dieser komische Vogel an?
Sie blickte noch einmal zu ihm hinüber. Er fixierte immer noch ihr blaues Kleid. Nun schien er sich auch noch für ihre Schuhe zu interessieren. Jetzt reicht’s , dachte sie. Dieser Kerl muss in seine Schranken verwiesen werden. Höflich, aber bestimmt. Sie entschied, dass es wohl am besten wäre, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, um das Eis zu brechen. Vielleicht bekäme sie auf diese Art und Weise heraus, warum er sich so merkwürdig verhielt.
»Ziemlich blank, nicht wahr?«, rief sie ihm zu.
Der Mann hob den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Sie schenkte ihm ein Lächeln in der Hoffnung, dass es erwidert wurde. Das wurde es nicht. Stattdessen trat er aus dem Schatten, in dem er sich verborgen hatte. Unwillkürlich fühlte Emily sich plötzlich unwohl. Dieser Typ war unheimlich. Schlimmer noch, er war genau das, was sie vor dem wichtigsten Auftritt ihresLebens überhaupt nicht brauchen konnte. Seine dunkle Kleidung erweckte den Anschein, als brächte er den Schatten mit, während er sich ihr näherte. Während er ins Helle trat, konnte Emily erkennen, dass er eine schwarze Kampfhose und eine schwarze Lederjacke mit einer Kapuze auf dem Rücken trug. Er ging an ihr vorbei und holte gleichzeitig eine dunkle Sonnenbrille aus einer Brusttasche seiner Jacke und setzte sie auf und versteckte so seine Augen.
Und dann war er weg.
Emily war froh, nur noch seinen Rücken zu sehen. Sie beschloss, ihn augenblicklich aus ihrem Bewusstsein zu streichen und sich wieder auf den Auftritt ihres Lebens zu konzentrieren. Das wurde ihr leicht gemacht, denn ein oder zwei Sekunden nach seinem Abgang hörte sie, wie Nina Forina begeistert ankündigte, dass sie endlich an die Reihe
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