Das Buch ohne Namen - Anonymus: Buch ohne Namen - The Book With No Name
höchstpersönlich. Er brauchte das Auge des Mondes, wenn er eine Chance haben wollte, dieses Treffen zu überleben. El Santino erwartete, dass der Stein vor Mitternacht abgeliefert wurde. Jefe hatte es ihm versprochen.
El Santino war kein Mann, den Jefe enttäuschen wollte, auch wenn er ihm nie zuvor begegnet war – doch das war nicht einmal das größte seiner Probleme. Wenn Marcus das Wiesel die Macht des Steins entdeckte, war es praktisch unmöglich, ihm das Auge des Mondes wieder abzunehmen. Genauso, wie es eigentlich völlig unmöglich hätte sein dürfen, dass der Stein Jefe gestohlen worden war.
Ein weiterer Gedanke kam ihm. Es bestand nämlich durchaus die Gefahr, dass Marcus von jemand anderem überfallen wurde. Es gab mehr als genug Leute, die scharf waren auf das Auge des Mondes. Viele von ihnen waren so brutal wie Jefe, andere noch brutaler. Wenn einer von ihnen den Stein in die Hände bekam, würde Jefe ihn niemals vor Ablauf des Tags zurückholen können.
Falls überhaupt jemals.
Er dachte für einen Moment über seine Möglichkeiten nach. Er konnte die Stadt verlassen und niemals wieder nach Santa Mondega zurückkehren – doch er hatte so viel Mühen auf sich genommen, um den Stein zu finden. Es war quasi ein Wunder, dass er bis jetzt überlebt hatte. Allein die Suche nach dem Stein und dessen Diebstahl hatten erfordert, mehr als Hundert Leute umzubringen, und mehr als einmal war Jefe selbst kurz davor gewesen, getötet zu werden. Und doch hatte er bis hierher überlebt. Er war unbeschadet bis in dieses Dreckskaff gekommen, nur um ausgerechnet dann unachtsam zu werden und auszurutschen, als er sich der letzten Hürde näherte.
Es mochte sich als beinahe unmöglich erweisen, den Stein von Marcus dem Wiesel zurückzuholen, doch er rief sich ins Gedächtnis, wie viel Geld er für ihn wert war. Eine ganze Menge. Davon abgesehen hing sein Leben davon ab.
Scheiße. Er würde frühstücken, und dann würde er sich auf die Suche begeben.
Das Wiesel war so gut wie tot.
Sechs
Jessica schlich schon länger durch das dicht bepflanzte Waldland, als sie zurückdenken konnte. Die Bäume ringsum ragten so hoch hinauf, dass sie beinahe den Himmel aussperrten. Der Untergrund war ein Geflecht von Wurzeln, die es sehr schwierig machten, normal zu gehen. Die Wahrscheinlichkeit, sich einen Knöchel zu verstauchen, wuchs mit jedem kleinen Schritt, den sie unternahm. Dabei war die Zeit für kleine Schritte längst vorbei.
Sie spürte, wie die Kälte an ihren Schultern und ihren Füßen nagte. Was immer es war, das sie auf ihrem Weg durch den Wald beobachtete, es verfolgte sie. Es beobachtete nicht länger, sondern schlich sich an. Die Bäume standen so dicht beieinander, und das Blätterdach über ihr war so dicht, dass es fast zu dunkel war, um etwas zu sehen. Abgesehen davon hatte sie zu viel Angst, um nach hinten zu blicken. Sie konnte den Atem ihres Verfolgers hören, sein mühsames Hecheln. Es musste irgendein Tier sein, so viel wusste sie. Was auch immer, es war nicht menschlich, und obwohl es nicht viel Sinn ergab, hatte sie das Gefühl, dass es auch kein Tier war. Es war etwas anderes, etwas Fremdartiges, und es wollte sie.
Während sie sich verzweifelt bemühte, ihre Schritte zu beschleunigen, wurden die Zweige und Äste dichter und dichter, als griffen sie nach ihr, als versuchten sie, ihre Flucht zu verlangsamen. Noch gelang es ihr, das Gleichgewicht zu bewahren, doch sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor sie über eine der Wurzeln stolperte und stürzte. Die Bestie kam unablässig näher, das Hecheln wurde mit jeder Sekunde lauter. Nichts schien sie verlangsamen, nichts aufhalten zu können. Sie wurde im Gegenteil schneller, und bald würde sie Jessica eingeholt haben.
Jessica riss die Augen auf und atmete scharf ein. Sie schloss die Augen fast sofort wieder wegen der blendenden Helligkeit. Öffnete sie, schloss sie erneut. Öffnete und schloss sie erneut. So ging es mehrere Minuten weiter, bis das brennende Gefühl erträglich geworden war. Und die ganze Zeit über lauerte der Alptraum, aus dem sie soeben aufgewacht war, in ihrem Hinterkopf. Er war so real erschienen, beinahe so, als wäre es kein Traum gewesen, sondern eine alte Erinnerung, die zurückgekehrt war, um sie zu verfolgen.
Sie blickte sich um. Das Zimmer war leer. Das einzige Mobiliar war das Bett, in dem sie lag. Die Wände waren in cremefarbenem Weiß tapeziert, und die Tapete hatte bessere Tage gesehen. Die helle
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