Das Buch ohne Namen - Anonymus: Buch ohne Namen - The Book With No Name
würde, mit der sich Thomas seit Gott weiß wie vielen Minuten unterhielt.
Die Wirklichkeit war jedoch eine andere. Sie zog den Vorhang zurück, und dahinter kam noch mehr Mauerwerk zum Vorschein. Die Treppe führte hinunter in eine Sackgasse. Doch wie war Thomas in ihr Zimmer gekommen? Und welchen Sinn hatte der Vorhang? Er verbarg nichts, denn dahinter befand sich lediglich eine weitere unverputzte Ziegelmauer. In Jessica erwachte das grauenvolle Gefühl, in einer Falle zu sitzen und dass Thomas vielleicht nicht ganz der Gentleman war, als der er ihr bei ihrer ersten Begegnung erschienen war.
Die Situation war nervenaufreibend. Schlimmer, sie war nicht nur extrem frustrierend, sondern sie machte Jessica auch wütend. Hier stand sie, gefangen, ohne zu wissen, wer und wo sie war, und in ihr stieg eine klaustrophobische Panik auf.
Atme tief durch , sagte sie sich. Bleib ganz ruhig.
Es fiel ihr leichter, wenn sie die Augen geschlossen hatte, doch im gleichen Moment fand sie sich in dem dichten, finsteren Wald wieder, mit der Bestie dicht auf ihren Fersen. Sie riss die Augen auf, und die Bestie war verschwunden.
Plötzlich ertönte die Stimme von Thomas ganz deutlich hinter der Ziegelmauer direkt vor ihr. Er klang recht aufgebracht.
»Was zur Hölle sollen wir mit einem gelben Cadillac anfangen?«, fragte er.
Jessica spürte, wie ihr plötzlich schwindlig wurde. Sie streckte die Hand aus, um sich an einer der Wände abzustützen, und schloss dabei unbeabsichtigt die Augen. Beinahe im gleichen Moment spürte sie, wie sie das Bewusstsein zu verlieren drohte. Nach fünf Jahren im Bett war selbst die kurze Strecke die Treppe hinunter viel anstrengender gewesen, als sie je für möglich gehalten hätte.
Ihre Beine gaben unter ihr nach, und als sie vornübersank, hörte sie zwei Dinge. Das erste war eine Frauenstimme, die um irgendetwas bettelte. Sie konnte die Worte nicht verstehen, doch der Tonfall der Frauenstimme war, als bettelte sie um etwas, das so wichtig und kostbar war wie ihr eigenes Leben.
Das zweite Geräusch, das in Jessicas Bewusstsein drang, war ein lautes Brüllen.
Das Brüllen der Bestie.
Sieben
Sanchez besuchte seinen Bruder Thomas und seine Schwägerin Audrey nicht besonders häufig, doch nach Ereignissen wie denen des vorangegangenen Tages wusste er, dass es von größter Bedeutung war, sie vor den möglicherweise lauernden Gefahren zu warnen.
Es war nahezu fünf Jahre her, seit er auf der Straße über den Engel gestolpert war. Er konnte sich so genau erinnern, weil es in der Nacht von Bourbon Kid gewesen war, jener Nacht, in der er mehr Blutvergießen und Leichen gesehen hatte als ein gewöhnlicher Beerdigungsunternehmer an irgendeinem anderen Ort als Santa Mondega im gesamten Jahr. Der fragliche Engel war eine wunderschöne junge Frau gewesen mit Namen Jessica. Ihre Wege hatten sich kurz gekreuzt, als sie in die Tapioca Bar gekommen war – eine jener seltenen Gelegenheiten, zu denen Fremde willkommen waren. Das nächste Mal, als er sie gesehen hatte, hatte sie blutend und bewusstlos auf der Straße gelegen, durchlöchert von Schusswunden. Ein Opfer des Mistkerls, der sich selbst »The Bourbon Kid« nannte.
Im Gegensatz zu allen anderen Opfern des Kids hatte Jessica irgendwie überlebt. Es hatte derartig viele Leichen an jenem Tag in den Straßen gegeben, dass Sanchez angenommen hatte, die Chance, dass sich ein Arzt um Jessica kümmerte, wäre gleich null. Das einheimische Krankenhaus quoll bereits über von Verletzten aus jener irrsinnigen Woche, seit Bourbon Kid seinen Besuch in der Stadt angekündigt hatte. Nein, die Überlebenschancen dieses Mädchens, so gering sie auch sein mochten, ruhten bei Audrey, Thomas’ Ehefrau. Sie war eine ehemalige Krankenschwester und besaß ein Talent für das Organisieren der besten Arzneien, daher schätzte Sanchez, dass sie Jessicas beste Hoffnung war. Zudem wohl sogar ihre einzige. Audrey hatte schon früher Opfer von Schießereien versorgt, und so gut wie jeder zweite ihrer Patienten hatte überlebt. Jessica hätte zumindest eine Chance. Vielleicht würde sie sogar wieder ganz gesund werden.
Als nach einigen Wochen in Audreys Pflege offenbar wurde, dass Jessica nicht sterben würde, obwohl sie nicht weniger als sechsunddreißig Kugeln abbekommen hatte, mussten Thomas und Audrey Sanchez schwören, niemandem zu erzählen, dass Jessica bei ihnen war. Jessica war etwas Besonderes. Sie war keine gewöhnliche Frau. Sanchez hatte schon einige
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