Das Buch ohne Namen - Anonymus: Buch ohne Namen - The Book With No Name
Farbe sollte wohl das Fehlen eines Fensters kompensieren. Was sie natürlich nicht tat, genauso wenig, wie sie die klaustrophobische Atmosphäre des Raums verringerte. Jessica wurde nach und nach bewusst, dass ihr unglaublich kalt war – nicht, dass es ihr viel ausgemacht hätte. Ihr war schon kälter gewesen. Was ihr etwas ausmachte war die Tatsache, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie sich befand oder wie sie an diesen Ort gekommen war.
»Hallo?«, rief sie. »Hallo? Ist da jemand?«
Sie lauschte. In der Ferne murmelte eine Stimme. Es klang wie die Stimme eines Mannes, und sie kam von unten, als wäre er ein Stockwerk unter ihr. Es verschaffte ihr ein Gefühl für ihre Umgebung, weil es implizierte, dass sie sich in einem Schlafzimmer oben in einem Haus befand. Dann ertönten plötzlich trampelnde Schritte und hasteten eine Treppe hinauf. Sie näherten sich der Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, und das Geräusch ließ ihr Herz erneut stocken. Sie wünschte sich, sie hätte nicht so voreilig gerufen. Die Schritte klangen schwer und wuchtig und schienen einem sehr massigen Mann zu gehören. Als sie vor der Tür zu ihrem Zimmer innehielten, gab es eine kurze Pause, dann sah sie, wie der Türknauf gedreht wurde. Langsam und quietschend öffnete sich die Tür.
»O mein Gott, du bist wach!«, rief der Mann verblüfft, der die Tür geöffnet hatte. Er war ein großer, vierschrötiger Bursche.
Er sieht aus wie ein Bauer , dachte Jessica. Ein ziemlich hübscher Bauer obendrein, was das anging. Dichtes schwarzes, glänzendes Haar und starke, ebenmäßige Gesichtszüge. Er trug ein dickes Holzfällerhemd über braunen Arbeitshosen, die in glänzend schwarzen hohen Stiefeln steckten.
Jessica redete los, ohne zu warten, bis ihr Gehirn richtig funktionierte.
»Wer zum Teufel bist du?«, wollte sie wissen.
»Du bist wach! Mein Gott, du bist tatsächlich wach! O mein Gott … ich meine … ach du heilige Scheiße …«, stammelte der Mann. Er schien noch mehr erstaunt zu sein als Jessica, obwohl sie mit einiger Sicherheit annehmen durfte, dass er mehr über ihre gegenwärtige Situation wusste als sie selbst.
»Wo zum Teufel bin ich? Und wer zum Teufel bist du?«, wiederholte sie.
»Ich bin Thomas. Thomas Garcia«, sagte der junge Mann und machte ein paar Schritte auf das Bett zu, während auf seinem Gesicht ein breites, strahlendes Lächeln erschien. »Ich habe mich um Sie gekümmert. Das heißt, meine Frau Audrey und ich, wir … wir haben uns gemeinsam um Sie gekümmert. Audrey ist im Augenblick auf dem Markt. Sie ist bald wieder zurück.«
Jessicas Instinkt sagte ihr, dass der Mann zwar nett schien, doch sie war immer noch verwirrt, und als er sich ihrem Bett näherte, wurde ihr schlagartig sehr bewusst, dass sie unter dem Laken völlig nackt war.
»Hör zu, Thomas, falls das dein richtiger Name ist. Ich bin splitternackt unter dieser Decke, deswegen würde ich es sehr schätzen, wenn du nicht näher kommen würdest, bis ich meine Sachen gefunden habe.«
Thomas trat zurück und hob entschuldigend die Hände.
»Bei allem gebotenen Respekt, Miss Jessica«, sagte er behutsam. »Ich habe Sie in den letzten fünf Jahren im Bett gewaschen, und es ist nicht so, als hätte ich Sie noch nie nackt gesehen.«
» Was? «
»Ich sagte …«
»Ich hab gehört, was du gesagt hast! Du hast gesagt, du hättest mich im Bett gewaschen. Du machst wohl verdammte Witze, Kerl!«
»Es tut mir leid, aber …«
Plötzlich dämmerte Jessica, was Thomas sonst noch gesagt hatte.
»Warte mal … fünf Jahre? Hast du eben FÜNF JAHRE gesagt?«
»Das ist richtig, Miss Jessica. Sie wurden vor fünf Jahren zu uns gebracht. Sie waren mehr tot als lebendig. Wir haben Sie seither gepflegt in der Hoffnung, dass Sie eines Tages wieder aufwachen würden.«
» FÜNF JAHRE ! Bist du völlig verrückt oder was?«
Jessica war gleichermaßen sprachlos vor Staunen und außer sich wegen dem, was Thomas erzählte. Sie hatte den Burschen noch nie zuvor gesehen, ganz zu schweigen davon, sich in den letzten fünf Jahren von ihm im Bett waschen zu lassen.
»Verzeihung, Jessica. Das ist doch der Name, oder?«
»Ja.«
»Verzeihung, aber Sie haben mich völlig unvorbereitet erwischt.«
» Ich hab dich unvorbereitet erwischt? Leck mich am Arsch. Das tut mir ja so unendlich leid, Kerl! Wirst du mir jetzt verdammt noch mal ein paar beschissene Klamotten holen, bevor ich die Geduld verliere?«
Thomas starrte sie entsetzt an.
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