Das Buch ohne Namen - Anonymus: Buch ohne Namen - The Book With No Name
Beleidigt antwortete er: »Jawohl, Miss. Selbstverständlich. Ich werde Ihre Sachen holen, und danach können wir uns unterhalten. Ich schätze, es gibt eine Menge, worüber wir reden sollten.«
Er wich rückwärts aus dem Zimmer, wandte sich ab, um die Tür zu schließen, und trampelte die Treppe hinunter. Jessica blieb allein in ihrem Zimmer zurück, um über alles nachzugrübeln, was sie soeben gehört hatte.
Wie konnte das sein? War das vielleicht ein Witz? Ein übler Trick? Dann traf es sie wie aus heiterem Himmel. Sie konnte sich kaum an irgendetwas erinnern. Sie wusste, dass sie Jessica hieß, doch sie war nicht sicher, ob sie es nur wusste, weil Thomas sie so genannt hatte. Ihre Verwirrung erinnerte sie an einen schweren Kater nach einer durchzechten Nacht, wenn man sekundenlang nicht wusste, wo man am Abend vorher gewesen war oder was man gemacht hatte. Der Unterschied zu ihrem jetzigen Zustand war, dass sie sich zwar erinnern konnte, wie es war, mit einem Kater aufzuwachen, doch an keinerlei Einzelheiten aus ihrem früheren Leben.
In der Zwischenzeit waren außerdem mehr als nur ein paar Sekunden vergangen, seit sie aufgewacht war, ohne dass sich an ihrer Erinnerungslücke etwas geändert hätte.
Wenige Minuten später kehrte Thomas zurück. Einigermaßen verlegen warf er ihr ein paar Kleidungsstücke auf das Bett, bevor er sich wieder entfernte und nach unten ging mit dem Versprechen, ihr ein Frühstück zu machen.
Jessica zog sich hastig an. Die Sachen passten perfekt, was bedeutete, dass es wahrscheinlich ihre eigenen waren. Es gab keinen Spiegel im Zimmer, in dem sie ihr Aussehen hätte kontrollieren können, doch sie hatte das Gefühl, dass so weit alles in Ordnung war, auch wenn sie nicht zu sagen vermochte, ob sie der gegenwärtigen Mode fünf Jahre hinterherhinkte oder nicht.
Die Sachen, die sie trug, waren vollkommen schwarz. Knöchelhohe schwarze Stiefeletten, weite, glänzende Pyjama-Hosen mit einem elastischen Bund und elastischem Hinterteil und eine wirklich coole Wickelbluse im Karate-Stil, die unglaublich bequem saß. So bequem, dass sie ihren Körper perfekt zu wärmen schien.
Bis sie so weit war, nach unten zu gehen und sich eingehend mit Thomas zu unterhalten, war jemand Neues in das Haus gekommen. Sie hörte sich unterhaltende Stimmen. Einige Sekunden lang redeten sie laut und erregt, dann ging es in gedämpftem Murmelton weiter. Es spielte keine Rolle, ob sie laut oder leise redeten – Jessica verstand hinter der geschlossenen Tür ihres Zimmers im ersten Stock ohnehin kein einziges Wort.
Nach ein paar tiefen Atemzügen, um ihre Nerven zu beruhigen, öffnete sie die Tür und blickte hinaus. Direkt gegenüber der Tür befand sich eine nackte Ziegelwand. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Wand zu verputzen oder mit Tapete zu verschönern. Links befand sich die im Dunkeln liegende Treppe nach unten ins Erdgeschoss. Das Licht war so schwach, dass Jessica die Stufen kaum erkennen konnte.
Es gab ein paar Kerzenhalter an der Wand, doch die Flammen brannten nur ganz klein und sahen aus, als könnten sie jeden Moment erlöschen. Jessica zögerte, doch jetzt war sie so weit gekommen, und es ergab keinen Sinn, in ihr Zimmer zurück zu flüchten. Sie unternahm einen skeptischen Schritt, und ihr Fuß fand auf der ersten Stufe Halt. Die Reise hatte begonnen. Bald würde sie erfahren, wer sie war und wieso sie hier gelandet war.
Die Stimmen unten waren wieder verstummt. Beinahe waren sie in ihrem Zimmer leichter zu hören gewesen als auf der kalten, feuchten, dunklen Treppe. Sie klangen so leise, dass Jessica nicht sicher war, ob sie sich nicht alles nur einbildete. Vielleicht hörte sie bloß das Rauschen des Windes und weiter nichts.
Vorsichtig stieg sie Stufe um Stufe nach unten, um bloß kein Geräusch zu machen. Aus irgendeinem instinktiven Grund heraus wusste sie, dass es ein Fehler wäre, ihre Ankunft bekannt zu machen, bevor sie den Fuß der Treppe erreicht hatte. Es waren fünfzehn Stufen bis nach unten, und alle sahen aus, als würden sie bei der geringsten Belastung laut und vernehmlich knarren. Jessica war jedoch leichtfüßig, und es gelang ihr, ohne das geringste Geräusch bis nach unten zu schleichen. Als sie nach einer scheinbaren Ewigkeit dort angekommen war, wurde sie von weiteren unverputzten Ziegeln vor ihr und zu ihrer Linken begrüßt.
Zur Rechten befand sich ein langer schwarzer Vorhang, hinter dem sie ohne Zweifel Thomas und die zweite Person vorfinden
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