Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
…« Sie unterbrach sich, als sie sein Mienenspiel bemerkte, den zugleich wissenden und verzweifelten Ausdruck von jemandem, der mehr wusste, als er sagen wollte. Instinktiv erriet sie seine Gedanken. »Du glaubst, dass es mit deiner Mission zusammenhängt? Mit dem Buch, das du bei dir trägst?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll, meine Tochter«, gestand Isaac leise und mit glänzenden Augen. »Am Anfang schien alles einfach zu sein, ein Auftrag, der mir erteilt wurde und den zu erfüllen ich geschworen hatte. Aber mit jedem Hindernis, das uns erwächst, reift meine Überzeugung, dass sich noch mehr dahinter verbergen muss.«
»Noch mehr? Wovon sprichst du, Vater?«
» W arum nur haben wir uns auf den Weg gemacht? Warum haben wir diese Reise begonnen?«
»Nun …« Chaya zögerte. Die Antwort schien so offenkundig, dass sie nicht sicher war, ob ihr Vater klaren Verstandes war oder einmal mehr im Fieber sprach. »W eil wir bedroht wurden, oder nicht? Weil das Buch im Reich nicht länger sicher war. So jedenfalls hast du es mir gesagt.«
»Und das dachte ich auch«, hauchte er. »Inzwischen jedoch frage ich mich …«
»Ja, Vater?«, hakte sie nach. Sie konnte sehen, wie er schwächer wurde, aber sie wollte eine Antwort, ehe der Abgrund des Fiebers ihn erneut verschlang.
»W ird unser Volk ohne jeden Grund angefeindet? Oder ist es, weil die Andersgläubigen die Gefahr fühlen, die ihnen droht?«
»V on uns?«, fragte Chaya stirnrunzelnd nach.
»V on dem Buch«, verbesserte ihr Vater. »Und von all jenen, die um sein Geheimnis wissen … Als mein Vater mir das Amt des Trägers übergab … Sagte mir, dass Rückkehr des Buches … Zeit der Veränderung … Frage mich, ob Zusammenhang … Hat begonnen …«
Chaya schüttelte den Kopf. Die Worte ihres Vaters wurden immer rätselhafter und zusammenhangloser. War es das Fieber? Oder versuchte er tatsächlich, ihr etwas zu sagen, das von großer Bedeutung war?
»W as hat begonnen, Vater? Ich fürchte, ich verstehe nicht.«
»Kalender der Christen … Ausgang des Jahrhunderts … kein Zufall. Dass Jerusalem erobern … alles fügt sich zusammen …«
»W as, Vater? Was fügt sich zusammen?« Chayas Unruhe wurde immer größer.
»Das Ende, Chaya«, ächzte der alte Isaac so leise, dass sie es fast von seinen Lippen lesen musste.
»Das Ende? Wovon?«
»Der Zeit«, gab ihr Vater kaum noch vernehmbar zur Ant w ort. Das Fieber und die Erschöpfung verlangten erneut Tribut, Müdigkeit breitete sich wie eine dunkle Decke über ihn. »Und dieser Welt.«
Trotz der Wärme einer klaren Sommernacht erschauderte Chaya bis ins Mark. »Ist es das, was du fürchtest?«, flüsterte sie und wagte kaum, das Undenkbare auszusprechen. »Das … das Weltgericht?«
Aber ihr Vater gab keine Antwort mehr.
Seine Augen waren geschlossen, sein Kopf zur Seite gefallen, seine Atemzüge keuchend, aber gleichmäßig.
»V ater?« Chaya berührte ihn sanft an der Schulter. »Sag es mir, Vater, bitte …«
Isaac blieb eine Antwort schuldig. Schlaf, der so tief war, dass er an Ohnmacht grenzte, hatte ihn erfasst, und Chaya konnte nur hoffen, dass es der ruhige, erholsame Schlaf der Genesung war. Die letzten Worte ihres Vaters jedoch wirkten nach wie eine bittere Medizin. Zur Sorge um den alten Isaac gesellte sich nun auch noch dumpfe Furcht aus dem tiefsten Grund ihres Herzens.
Das Ende der Welt.
War dies das Geheimnis, das das Buch von Ascalon enthielt? Verriet es, wo und wann das Weltgericht stattfand, jener Jüngste Tag, vor dem sich nicht nur Juden fürchteten, sondern auch Muselmanen und Christen? Stand er womöglich unmittelbar bevor?
Chaya spürte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Ihr Gesicht wurde heiß, ihre Handflächen schwitzten. Sie musste Antworten bekommen, und da ihr Vater nicht in der Lage war, sie ihr zu geben …
Als ihr Blick den ledernen Köcher traf, der wieder über dem Bett an der Wand hing, erschrak sie über ihre eigene Entschlossenheit.
Nur einmal hatte sie versucht, das Mysterium zu ergründen und das geheime Buch zu lesen. Einen zweiten Anlauf hatte sie, sei es aus Respekt oder aus heimlicher Furcht, nicht u nternommen. Die dunklen Andeutungen ihres Vaters jedoch ließen sie alle Bedenken vergessen. Chaya wollte die Wahrheit erfahren, und sie war nicht gewillt, sich noch länger davon abhalten zu lassen.
Was verbarg sich hinter dem Buch von Ascalon?
Sie beugte sich zu dem Köcher und nahm ihn vom Haken. Eine gefühlte Ewigkeit lang wog
Weitere Kostenlose Bücher