Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
sie das unerwartet leichte Behältnis in den Händen und betrachtete das Siegel, das im flackernden Lichtschein zu erkennen war: den sechszackigen, ineinander verschränkten Stern, das Siegel Salomons, wie ihr Vater es nannte. Ehrfurcht ergriff von ihr Besitz, und einen flüchtigen Moment lang erwog sie, von ihrem Vorhaben abzulassen. Dann fasste sie sich ein Herz und öffnete den Verschluss der Kappe.
Chaya war bereits dabei, die ledernen Schnüre aus den Ösen zu ziehen, als ihr Vater sich regte.
Ein geräuschvoller Atemzug, eine ruckartige Bewegung – der Kopf des alten Isaac flog in die Höhe.
»W as …?«
Chayas Herzschlag wollte fast aussetzen. Wie versteinert kauerte sie auf dem Schemel, das verbotene Objekt in den Händen. Sie wartete darauf, dass sich ihr Vater zu ihr drehen und sie auf frischer Tat ertappen würde. Aber was auch immer Isaacs Ruhe gestört haben mochte, es war nicht von langer Dauer. Er murmelte einige unverständliche Worte, dann schloss er die Augen und sank zurück auf das strohgefüllte Lager. Schon einen Atemzug später war er wieder eingeschlafen.
Rasch klappte Chaya die Verschlusskappe des Behälters auf und griff hinein. Sie konnte die dünne Haut von Pergament fühlen, die hölzernen Stäbe, auf die es gerollt war. In einem jähen Entschluss zog sie es heraus und hielt eine Schriftrolle in Händen, die auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches an sich hatte.
Weder war sie mit besonderen Verzierungen versehen, noch war sie versiegelt. Im Grunde, so dachte Chaya enttäuscht, u nterschied sie sich in nichts von jenen unzähligen Listen und Aufstellungen, die ihr Vater im Arbeitszimmer des Handelskontors aufbewahrt hatte. Sollten sich Daniel Bar Levi und der alte Isaac am Ende geirrt haben? Waren sie einem Betrug aufgesessen?
Chayas Ehrfurcht wich und mit ihr das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Ohne zu zögern drehte sie an den Stäben und entrollte das Pergament.
Am Schriftbild konnte sie erkennen, dass das Buch von talentierter Hand, wenn nicht gar von der eines berufsmäßigen Sofers verfasst worden war. Jeder einzelne Buchstabe wirkte wie ein Kunstwerk und war von einer Ausgewogenheit und Harmonie, wie sie sonst nur auf Thorarollen anzutreffen war. Dazu war die Schrift von einer ungewohnten, altertümlich anmutenden Art, wie Chaya sie noch nie zuvor gesehen hatte. Auf geradezu unwiderstehliche Weise fühlte sie sich von den alten Zeichen angezogen.
Einzelne Worte stachen ihr ins Auge und fanden in ihr Herz, und im flackernden Licht der Öllampe begann sie zu lesen.
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6.
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Tal des Kara Su, westlich von Dorylaeum
1. Juli 1097
Conn rannte, den Speer krampfhaft umklammernd, und er tat das, was auch die anderen Männer taten, die zusammen mit ihm den Hang hinaufstürmten, ihre blanken Waffen in den Händen.
Er schrie aus Leibeskräften.
So laut, dass es den donnernden Hufschlag der Pferde übertönte, die zur Rechten vorbeijagten, das Schwerterklirren, das von jenseits der Hügelkuppe drang, und den trommelnden Schlag seines Herzens.
Der Befehl zum Vorrücken war unvermittelt gekommen.
Eben noch war der Heerhaufen lothringischer Soldaten, dem Conn vorläufig zugeteilt worden war, in loser Ordnung marschiert. Ihr Ziel war das Feldlager gewesen, das oberhalb des Flusses aufgeschlagen werden sollte, der das Tal in nördlicher Richtung durchfloss. Im weiteren Verlauf dann bog er abrupt nach Westen ab, der Stadt Dorylaeum entgegen, die nach Nicaea das nächste Ziel des Feldzugs sein sollte.
Doch die Ereignisse hatten sich überschlagen.
Boten waren eingetroffen, die von einem türkischen Überfall auf die Vorhut des Heeres berichtet hatten, die sich aus byzantinischen Soldaten sowie aus normannischen Kämpfern unter Bohemund von Tarent und Stephen de Blois zusammensetzte. Die Anführer der Hauptstreitmacht, allen voran G odefroy de Bouillon und Raymond de Toulouse, hatten daraufhin beschlossen, ihren in Bedrängnis geratenen Waffenbrüdern sofort zur Hilfe zu eilen.
Ein gnadenloser Eilmarsch durch das Tal des Kara Su hatte sich angeschlossen, der Flussbiegung entgegen, wo erbittert gefochten wurde. Unterwegs waren die Kämpfer Christi auf die Überreste des Trosses gestoßen, über den die seldschukischen Krieger mit erbitterter Grausamkeit hergefallen waren. Die Bilder verstümmelter Leichen von Alten, Frauen und sogar Kindern, die den Zug als waffenlose Pilger begleitet hatten und die ohne Gnade niedergemacht worden waren, standen Conn noch vor Augen. Er war
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