Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
und die ausgedünnten Vorräte an Pfeilen und Wurfgeschossen aufgefüllt, dazu versuchte man, in aller Eile die jahrhundertealten, durch die lange Belagerung in Mitleidenschaft gezogenen Mauern der Stadt zu verstärken. Die wichtigsten Baumaßnahmen jedoch gingen dort vonstatten, wo die Zitadelle des Feindes wie ein Stachel im Fleisch der Kreuzfahrer saß: In aller Eile wurde unter der Aufsicht Bohemunds von Tarent und Raymonds de Toulouse ein behelfsmäßiger Wall aufgeschüttet, der die Be s atzung der Festung daran hindern sollte, den Kreuzfahrern in den Rücken zu fallen.
Die Unruhe, die über der Stadt lag, war deutlich zu spüren – Furcht, Zorn, Verzweiflung und Trotz, von allem war etwas dabei. Man hatte so lange und unter solch schrecklichen Verlusten um Antiochia gerungen, dass man die Stadt nun nicht gleich wieder aus den Händen geben wollte, folglich wollte man alles daran setzen, sie zu behaupten. Zumal klar war, dass man im Fall einer Niederlage keine Gnade zu erwarten hatte. Man hatte sie bei der Eroberung nicht gewährt und würde sie auch nicht bekommen.
Der Weg zum südlichen Ende der Stadt führte an der alten Kathedrale Antiochias vorbei, die von den Türken als Moschee genutzt worden war und unter der Anleitung des päpstlichen Legaten Adhémar von Monteil nun wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt wurde. Wie es hieß, sollte dem Herrn in einer feierlichen Messe für die Eroberung von Antiochia gedankt werden, doch noch wagte niemand, die Glocken zu läuten. Zu frisch waren die Wunden, zu groß die Entbehrungen – und zu überwältigend die feindliche Streitmacht, die sich im Norden sammelte.
Als Baldric das jüdische Viertel erreichte, fiel die hektische Betriebsamkeit entlang der Hauptstraße schlagartig hinter ihm zurück. Nur die Häuser am äußersten Rand des Viertels wurden von Kreuzfahrern bewohnt, die anderswo keine Bleibe gefunden hatten. Je weiter Baldric jedoch in das Viertel vordrang, desto leerer wurden die Gassen. Die Eingänge der Häuser waren verbarrikadiert, ebenso die Fenster. Baldric nahm an, dass die Bewohner im dunklen Inneren saßen und um ihr Leben zitterten. Nach dem, was geschehen war, hatten sie auch allen Grund dazu.
Der Marktplatz war verlassen, das Eingangstor der Synagoge stand weit offen. Soldaten des flämischen Grafen Robert hatten sie noch am Morgen der Eroberung geplündert, nichts und niemand hatte sie davon abhalten können. Die Trümmer u mgestürzter Wagen lagen umher, hier und dort ein Leichnam, der bei der Räumung wohl übersehen worden oder vielleicht auch erst später hinzugekommen war. Ein Menschenleben galt nichts in diesen Tagen, entsprechend hatte Baldric die Hand am Schwertgriff, während er langsam über den Marktplatz ging und sich dabei vorsichtig umblickte.
Plötzlich war da eine Bewegung unmittelbar neben ihm.
Eine gedrungene Gestalt setzte hinter einer niedrigen Mauer hervor und wollte in Windeseile in die nächste Gasse flüchten – Baldric jedoch kam ihr zuvor.
»Halt!«, befahl der Normanne mit lauter Stimme, worauf die Gestalt tatsächlich kurz innehielt – genügend Zeit für Baldric, um einen beherzten Schritt zu machen und sie am Kragen ihres Gewandes zu packen. Es war ein Knabe von acht oder neun Jahren. Er schrie nicht, aber nackte Furcht sprach aus seinen Augen. Panisch wand er sich im Griff seines einäugigen Häschers, der ihn unnachgiebig festhielt.
»Das Haus Ezra Ben Salomons«, verlangte Baldric zu wissen. »W o befindet es sich?«
Der Junge gebärdete sich weiter wie von Sinnen.
»Hörst du nicht? Ich suche das Haus von Ezra Ben Salomon!«
Plötzlich hielt der Knabe inne. Baldric nahm nicht an, dass er Französisch sprach, den Namen jedoch schien er verstanden haben.
»Ben Salomon?«, fragte er leise und schaute ängstlich auf.
Baldric nickte, worauf der Junge die Gasse hinab deutete, in die er hatte flüchten wollen.
»Ist das auch die Wahrheit?«
»Ben Salomon«, wiederholte der Knirps, wobei ein so unschuldiges Lächeln über seine Züge huschte, dass selbst der grimmige Baldric grinsen musste.
»Danke«, sagte er und ließ den Jungen los – worauf dieser pfeilschnell davonflitzte und schon im nächsten Moment in einem Mauerspalt verschwunden war.
B aldric schlug den Weg ein, der ihm bezeichnet worden war, und fand sich schon kurz darauf vor dem Eingang eines eindrucksvollen Wohnhauses wieder, das einem reichen Bürger gehören musste. Die hölzerne Tür war aus den Angeln gerissen,
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