Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
war längst nicht mehr möglich – Conn schätzte, dass auf die rund eintausend Ritter und zehntausend Mann Fußvolk noch einmal dieselbe Menge an Dienern und Knechten sowie an Verwundeten, Frauen und Kindern kam. Infolge der Hitze und der Dürre des Sommers hatten sich Hunger und der Mangel im Lager noch um ein Vielfaches verschärft, sodass viele Pilger es wie einst vor Antiochia vorzogen, ihr Heil in der Flucht zu suchen.
Vor diesem Hintergrund nun hatte der Fürstenrat einen Beschluss gefasst. Nicht, dass sich die Anführer des Feldzugs plötzlich einig geworden wären – die Vorstellungen der Herren, was mit Jerusalem zu geschehen hätte, wenn es erst erobert wäre, klafften weit auseinander. Während Raymond, der Graf von Toulouse und Anführer der Provenzalen, die Stadt f ür die Kirche in Besitz nehmen wollte und davon ausging, dass kein anderer als Christus selbst König von Jerusalem sein könne, trachteten die italischen Normannen unverblümt nach der Krone. Godefroy de Bouillon hingegen, der mächtige Herzog von Niederlothringen, versuchte zwischen den Parteien auszugleichen und die Belagerung zu organisieren, so gut es unter den gegebenen Voraussetzungen möglich war, was auch den Bau zweier mächtiger Belagerungstürme einschloss, die die Stadtmauern bezwingen sollten. Doch so unterschiedlich die Vorstellungen der Fürsten darüber waren, was nach der Eroberung der Stadt geschehen sollte – sie alle wussten, dass Eile geboten war. Iftikar ad-Dawla, der Befehlshaber der muselmanischen Garnison von Jerusalem, hatte Verstärkung aus Kairo angefordert. Wenn sie eintraf, würde die Kreuzfahrer genau jenes Schicksal ereilen, dem sie vor Antiochia noch mit knapper Not entgangen waren: Man würde sie vor den Stadtmauern stellen, wo sie schutzlos und ohne Befestigung kämpften, und sie bis auf den letzten Mann vernichten!
Entsprechend hatte Isoard von Garp, ein Graf aus dem südlichen Frankreich, vorgeschlagen, dass die Streiter Christi genau das tun sollten, was sie auch vor Antiochia getan hatten, nämlich sich dem Ratschluss des Allmächtigen anzuvertrauen. Der Mönch Desiderius, so der Graf weiter, habe ihn in seinem Zelt aufgesucht und behauptet, dass ihm kein anderer als Bischof Adhémar im Traum erschienen sei, der die Fürsten dazu aufgefordert habe, ihren Streit endgültig beizulegen. Mit einer dreitägigen Fastenzeit und einer Prozession um die Mauern von Jerusalem, barfuß und im Gewand des Büßers, sollten die Herren für ihre Gier und Ichsucht Buße tun. Danach, so Desiderius, werde die Stadt innerhalb von neun Tagen fallen.
Nie zuvor hatte Conn im Fürstenrat so vollkommenes Schweigen erlebt. Schon in der Vergangenheit hatte Desiderius durch seine Visionen von sich reden gemacht; da sie den Zielen der Anführer jedoch oft widersprochen hatten, waren sie kurzerhand nicht anerkannt worden. Diesmal jedoch ahnte w ohl ein jeder der Herren, dass Desiderius’ Prophezeiung die einzige Möglichkeit bot, das Kreuzfahrerheer für eine letzte gemeinsame Anstrengung zu einen. Zudem erlaubte sie es jedem der Herren, vor seinen Untergebenen das Gesicht zu wahren, da die Weisung gleichsam von höchster Stelle erfolgte.
Es war ein seltsames Bild, die bärtigen, abgerissenen Gestalten, zu denen die Fürsten verkommen waren, einen nach dem anderen zustimmen und feierliche Eide leisten zu sehen; ein Gefolgsmann Godefroys mit Namen Lethold de Tournaye schwor gar, der Erste sein zu wollen, der die feindlichen Mauern erstürmte. Unwillkürlich verglich Conn sie mit Bahram, dem feingeistigen, gebildeten Orientalen, und mit Caleb, dem jungen Juden, der kein Krieger und dennoch bereit war, sein Heim und seine Familie entschlossen zu verteidigen – und nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob er auf der richtigen Seite stand.
Der Beginn der Fastenzeit war sogleich beschlossen worden, und so fand die von Desiderius geforderte Prozession schon zwei Tage später statt. Mehrere tausend Menschen begaben sich an jenem Freitagmorgen auf den Bußgang um die Mauern der Stadt.
Den Anfang machten die Priester und Ordensleute, die Kreuze vor sich hertrugen und feierliche Choräle sangen, in denen sie dem Herrn huldigten; auch wurden mehrere Reliquienschreine dem Heer vorangetragen, die die Fürsprache der Heiligen beim Allmächtigen erwirken sollten. Es folgten die Ritter, die einfache Kleider trugen und barfuß gingen, wie Desiderius’ Vision es verlangte. Trompetenklang begleitete sie, und ein jeder, der in ihren Reihen
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