Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
eiskalten Hände sie nicht mehr lange halten konnten. Seine Finger fühlten sich an, als würden sie jeden Moment in Stücke brechen.
Jetzt hörte er draußen ein Poltern, sogar durch den Mantelstoff hindurch.
» Die Burg wird angegriffen! «, entfuhr es ihr.
» Männer des Königs? «
» Wer sonst? Aber ich kann nur ein kleines Stück vom Hof sehen. Räuber und Wolfskrieger, die umherlaufen. «
Nun hörte er Stimmen. Und wieder das Poltern. Der Boden erzitterte.
» Was ist das? «, fragte er alarmiert.
» Steine fallen vom Himmel. Große Steine. «
» Sie setzen Katapulte ein! «
Ein Bersten und Splittern ertönte. Eine Staubwolke schoss durch den Spalt unter der Tür herein und raste wie eine Wand auf die beiden zu. Libuse schwankte und verlor den Halt. Aelvins Hände rutschten auseinander. Er versuchte noch, sie aufzufangen, griff aber ins Leere. Aus dem Dachgebälk über ihnen rieselten Steinsplitter und noch mehr Staub. Boden und Wände erbebten so stark, als habe sich die Erde selbst unter dem Hof der Silberfeste aufgetan. Libuse kam mit einem dumpfen Laut vor seinen Füßen auf. Aelvin bekam keine Luft, hus tete wild und fiel auf die Knie, um nach ihr zu sehen. » Bist du verletzt? «, keuchte er.
» Nein. « Sie rappelte sich schon wieder hoch, schwankend zwar, aber ohne Brüche und Prellungen.
» Das Gebäude ist getroffen «, sagte er und dachte, dass in einer besseren Welt eine der Kerkerwände eingestürzt wäre. Doch die Kammer war nach wie vor unbeschädigt, nirgends klaffte ein Loch in die Freiheit. Missmutig malte er sich aus, dass um sie herum der gesamte Gefängnisanbau ineinander gestürzt war und nur diese eine Zelle noch stand, ein steinerner Würfel inmitten des Trümmerfeldes.
Libuse lief hustend durch den Staub zur Tür, wollte daran rütteln – und schon bei der leichtesten Bewegung gab der Türflügel nach. An einem Scharnier schwang er nach außen, knirschte und schleifte mit der Unterkante über den Steinboden. Schon nach einer Handbreit verkantete er sich, und sie musste zweimal mit aller Kraft dagegentreten. Endlich war der Spalt breit genug, um hindurchzuschlüpfen. » Komm! «, rief sie.
Aelvin hielt sich den Unterarm vor Nase und Mund, um nicht noch mehr Dreck einzuatmen, und folgte ihr hinaus auf den Gang. Auf den ersten Blick hatte sich nicht viel verändert. Erst als ein Windstoß die Vorhänge aus Staub beiseite fegte, sahen sie, dass der Weg zu ihrer Linken jetzt im Freien endete. Vernebeltes Tageslicht erhellte einen Trümmerhaufen aus Steinen und geborstenen Balken.
Sie kletterten darüber hinweg und hatten Mühe, auf mehrere Dinge gleichzeitig zu achten: auf Löcher und Spalten im Untergrund; auf Feinde, die ihre Flucht bemerken mochten; und auf weitere Geschosse, die über die Ringmauer heranrasten und ringsum Hüttendächer und Mauern zermalmten.
Zumindest ihre Angst vor Entdeckung erwies sich als unbegründet. Niemand beachtete sie. Ein wimmelnder Pulk aus Wolfskriegern und Räubern hatte sich am Tor versammelt, wo sie durch den Mauerwall vor den Katapultgeschosse n g eschützt waren und zugleich auf den ersten Versuch ihrer Gegner warteten, die mächtigen Torflügel aufzustoßen.
Aelvin und Libuse erreichten den Fuß des Trümmerhügels. Einen Augenblick lang fehlte ihnen jegliche Orientierung. Zahlreiche Gebäude im Vorhof der Silberfeste waren eingestürzt, zerborsten unter der Gewalt der steinernen Geschosse. An mehreren Stellen waren Brände ausgebrochen. Rauch quoll in zerfasernden Säulen empor und verdüsterte den Himmel. Die Sicht betrug kaum fünfzig Schritt. Palas und Türme der Hauptburg lagen hinter Staubwolken und Qualm verborgen. Von allen Seiten ertönten Schmerzensschreie und Befehle, hektisches Getrampel und Waffengeklirr.
Die Räuber und Wolfskrieger stürmten durch die Gassen zwischen Ruinen und unversehrten Schuppen. Kaum einer der Räuber trug seinen Horn- und Geweihschmuck; schlichte Bauerngemüter mochte man mit dieser Maskerade ängstigen können, nicht aber die Ritter des Königs.
Viele Katapulte konnten die Königlichen in so kurzer Zeit nicht herangeschafft haben, doch Aelvin schien es, als nähme der Gesteinsregen vom Himmel kein Ende. Die Ungewissheit, wo das nächst e Geschoss einschlagen würde, lä hmte seine Glieder ebenso wie sein Denken.
Libuse packte ihn am Arm. » Los, komm schon! «
» Nicht in diese Richtung! «, rief er. » Zum Mineneingang! Im Berg sind wir wenigstens vor den Katapulten sicher. «
Sie nickte
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