Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
sprach zum ersten Mal seit den Ereignissen in der Großen Halle. » Ihr glaubt, die Pflanze hat sie bei Gesundheit gehalten? «
» Sie und die Medizin «, bestätigte Albertus und drehte nachdenklich das verkorkte Fläschchen zwischen den Fingern. » Solange die Lumina bei ihr war, half ihr das hier zu überleben. Aber ohne sie? « Er schüttelte erneut den Kopf, und Libuse schauderte, als sie die Verzweiflung in seinen Augen sah.
Favolas Keuchen hob an, und einen Moment lang glaubten sie alle, ein neuerlicher Anfall überkäme sie. Dann aber wurden die Laute allmählich zu Wortsplittern. » Es … es geht mir … gut «, sprach sie brüchig. » Macht euch … keine Sorgen … um mich … «
Libuse musste sich abwenden. Es tat weh, Favola so zu sehen. Die Kraft, die noch immer in der jungen Frau steckte, selbst nach allem, was gerade geschehen war, beschämte Libuse.
Die Augenlider der Novizin flackerten, dann öffneten sie sich. » Ich bin nicht … so krank … wie ich aussehe. « Jetzt lächelte sie sogar. Ein wenig.
» Ganz ruhig, Kind «, sagte Albertus besänftigend. » Lieg ganz ruhig. Erhol dich erst einmal. «
» Was dachtet … Ihr denn? «, fragte sie leise. » Dass ich versuche … die Gitter … aufzubiegen? «
Aelvin wischte sich über die Augen. Ein unsicheres Lachen flackerte über seine Züge, aber es klang eher wie ein Schluchzen. Er schlug die Hände vors Gesicht und ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand sinken.
Libuse hatte das Gefühl, als sackte das gesamte Blut in ihrem Körper nach unten. Ihr wurde schwindelig, teils vor Erleichterung, teils weil etwas in ihr an das glauben wollte, was Albertus sagte. Es passte zu allem, was bislang auf ihrer Reise geschehen war.
Favola brauchte die Lumina.
Und die Lumina brauchte Favola.
Shadhan mochte mit der Pflanze verschwinden, aber würde er am Ende noch etwas Lebendiges in dem Schrein vorfinden? Würde die Lumina nicht ebenso dahinwelken wie ihre Hüterin in diesem Kerker?
Es war in diesem Augenblick, inmitten dieses Wechselbades aus Verzweiflung und Hoffnung, dass draußen vor dem Gitter Schritte ertönten. Dann rasselte ein Schlüsselbund.
Die Kerkertür schwang auf.
*
Sinaida hatte von dem Mädchen abgelassen, als ihr klar wurde, dass sich die Lage beruhigte. Sie war zurückgetreten und hatte sich wieder aufs Beobachten, aufs Zuhören verlegt.
Was die anderen da sagten, klang aberwitzig.
Aber hatte sie nicht selbst den Garten Gottes gesehen, mit ihren eigenen Augen? Sie hatte die Macht der Alten vom Berge über das Tor zum Garten am eigenen Leibe erlebt. Sie war dort gewesen.
Und sie glaubte.
An dieses Mädchen. An die Pflanze, die sie die Lumina nannten. An die Möglichkeit des Unfassbaren.
Als sich dann das Gitter des Kerkers öffnete, rückte auc h e ine Rettung wieder in greifbare Nähe. Ihre Rache an Shadhan. Sogar die Aussicht, dass sich alles vielleicht noch zum Guten wenden konnte.
Ihre Schwester Doquz betrat das Verlies. Sie trug das Prachtgewand einer Mongolenfürstin, in dunklem Türkis mit Stickereien und Überwürfen. Auf ihrem Haupt thronte ein verästelter Kopfschmuck aus Gold, wie es ihre Untertanen vom Weib des Hulagu erwarteten. Mit einer Miene, deren ernster Kummer vor ihrer aller Augen zu einem tränenreichen Lächeln zerfloss, eilte sie auf Sinaida zu und schloss ihre jüngere Schwester so fest in die Arme, dass diese für einen Augenblick vor Überraschung erstarrte.
Dann aber überkam Sinaida dieselbe Freude, und plötzlich war es ohne Bedeutung, wo sie sich befanden und unter welchen Umständen dieses Wiedersehen stattfand. Sie hielten einander fest, brachten kein Wort heraus, ehe sie sich schließlich widerstrebend voneinander lösten, einander aber weiterhin an den Händen hielten.
» Ich habe es gerade erst erfahren «, sagte Doquz und gab sich keine Mühe, das Weinen aus ihrer Stimme zu verbannen.
» Shadhan hat versucht, es so lange wie möglich geheim zu halten. «
» Kannst du uns hier rausholen? «, fragte Sinaida eindringlich. Sie benutzten die Sprache der Mongolen, die keiner der anderen Gefangenen verstand. Albertus, Aelvin, Libuse und Favola blickten verwirrt von einer der beiden Frauen zur anderen.
» Euch alle? «, fragte Doquz zweifelnd.
» Alle. «
» Ich … « Sie zögerte, dann nickte sie entschieden. » Ja. «
Sinaida musste für einen Moment den Blick senken, rang um ihre Fassung, dann sah sie ihrer Schwester wieder in die Augen. » Es tut mir so Leid, was geschehen ist.
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