Das Camp (Sartos) (German Edition)
sprachen, wenn sie angeredet wurden. Nie erzählte jemand etwas darüber, wie es dort gewesen war, was natürlich den wildesten Gerüchten und Vermutungen Nährboden gab. Das Camp verursachte etwa den gleichen Schrecken bei den Menschen, wie die zahllosen aggressiven Haie, die die Gewässer rund um die Insel verseuchten. Genauso wenig wie jemand freiwillig einen Fuß ins Meer strecken würde, näherte man sich der Gegend des Camps. Niemand, der noch bei Verstand war, würde den meilenweiten Waldgürtel betreten, in dem die Cadaveri hausten, ehemalige Insassen des Camps, denen jegliche Menschlichkeit verloren gegangen war und die sich gegenseitig umbrachten und aufaßen,- so hieß es zumindest. Zu Cadaveri wurden diejenigen, die trotz jahrelanger Umerziehungsversuche, nicht in der Verfassung waren, wieder in die menschliche Gesellschaft eingegliedert zu werden.
Der ein- oder andere aus Troys Inselgemeinschaft hatte behauptet schon welche gesehen zu haben. Aus der Ferne hätte man sie am Waldrand entdecken können, wie sie mit ihren ausgemergelten Körpern unkontrolliert herum taumelten, irre Schreie ausstoßend und unflätige Worte brüllend.
„Na, Troy, das Band passt ja ausgezeichnet zu deinen Haaren. Vielleicht solltest du es immer tragen.“ Rory Gentry, der Aufseher der Rübenpflück-Kolonne stand breitbeinig neben Troy und grinste sie spöttisch an. Da das Band zu ihren rotblonden Haaren etwa so gut passte wie Balletschuhe zu einem Maurermeister, warf sie ihm nur einen verächtlichen Blick zu und bückte sich nach der nächsten Rübe.
„Ist das die Zielscheibe, damit man weiß, wo sich dein Gehirn befindet?“
„ Ich hab wenigstens eins. Bei dir würde jeder Pfeil in ein Vakuum treffen, selbst wenn du fünf Zielscheiben an deinen Eierkopf getackert hättest.“
Rorys Mund verkniff sich zu einem schmalen Strich und er gab Troy einen Schlag an die Schulter, die sie, mitsamt ihrer Rübe, in den Staub beförderte.
„Autsch!“, jaulte Reeve.
„Rory, ich glaube, mich hat ein Knys-Käfer erwischt!“ Reeve hielt ihren blutigen Zeigefinger hoch und jammerte dramatisch. Knys-Käfer waren unerfreuliche Dinger, die sich vom Blattwerk der Rüben ernährten und rasiermesserscharfe Greifzangen hatten, die sie gerne einsetzten, sobald ihnen jemand zu nahe kam. Giftig waren sie nicht, aber ihre Bisse konnten recht tief gehen und waren äußerst schmerzhaft.
Rory vergaß Troy und stürzte zu Reeve, die auf die Knie gesunken war.
Es war kein Geheimnis, dass Rory Gentry auf Reeve stand. Wer stand nicht auf sie? Reeve verkörperte all das, was Troy vermutlich niemals haben würde. Sie war zierlich, mit einem ebenmäßigen Gesicht, großen blauen Augen, goldblondem Haar, das ihr lang über den Rücken fiel und einem gewinnenden Lächeln. Troy hingegen war von burschikoser Gestalt, sommersprossig und hatte schiefe Schneidezähne. Ihre rötliche Haarmähne und ihre blitzenden grünen Augen, erweckten nicht unbedingt den Beschützerinstinkt beim anderen Geschlecht.
Rory , der zwei Jahre älter als die beiden war und die höhere Schule besuchte, machte ein Gewese um Reeves Finger, als hätte ihr der Käfer den Arm abgerissen. Troy nutzte die Gelegenheit und machte, dass sie mit ihren Rüben aus der Schusslinie kam.
„Deinetwegen habe ich mir den Finger an einem scharfkantigen Stein aufgeschnitten,- du schuldest mir was!“, zischte Reeve, als sie wieder alleine waren.
„Ich weiß, tut mir leid!“, meinte Troy zerknirscht.
„Du wirst doch wohl vier Wochen durchhalten, ohne dich von jedem Idioten provozieren zu lassen! Mein Gott! Du bist fünfzehn und keine fünf mehr!“
Troy senkte schuldbewusst den Kopf.
Den Rest des Nachmittags verbrachten sie mit der Ernte der Rüben. Troy bemühte sich, nicht weiter aufzufallen, während Reeve versuchte, sich Rory vom Leib zu halten und ihn gleichzeitig bei guter Laune hielt, damit er Troy nicht wieder aufs Korn nahm.
Erntezeit war, abgesehen von ein paar Wochen Winterzeit, ganzjährig auf Sartos. Das hieß, dass es immer eine Beschäftigung für die Jugendlichen nach der Schule gab, die in der Regel bis zwei Uhr Nachmittag dauerte. Je nach Stand der Familie mussten die Schüler bis zu drei Stunden täglich auf den Feldern arbeiten.
Angehörige des obersten Standes, der Nobilitas, waren von der schnöden Arbeit befreit. Ihre Eltern gehörten zur geistigen Elite, die mit der Verwaltung der Insel betraut waren. Kindern vom Stand der Nobilitas war auch das einzige
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