Das Chagrinleder (German Edition)
triumphieren, sie mit unserer Schönheit, unserem Reichtum in den Schatten zu stellen? Überhaupt, erleben wir an einem Tage nicht mehr als eine gute Bürgersfrau in zehn Jahren? Und damit ist alles gesagt.«
»Ist eine Frau ohne Tugend nicht verabscheuungswürdig?« versetzte Emile, zu Raphael gewandt.
Euphrasie warf ihnen einen Schlangenblick zu und antwortete mit unnachahmlicher Ironie: »Die Tugend überlassen wir den Häßlichen und Buckligen. Was wären sie denn ohne diese, die Armen?«
»Schweig!« rief Émile, »sprich nicht von Dingen, die du nicht kennst.«
»So! Ich kenne sie nicht!« rief Euphrasie. »Sich sein ganzes Leben lang einem verhaßten Menschen hingeben, Kinder aufziehen, die einen verlassen, und ihnen auch noch Danke sagen, wenn sie einen ins Herz treffen: das sind die Tugenden, die ihr von der Frau verlangt; und um sie für ihre Entsagung zu belohnen, legt ihr ihr neue Leiden auf, indem
a name="page81" title="uwe-joachim/TS" id="page81"> ihr sie zu verführen sucht; widersteht sie, so kompromittiert ihr sie. Ein schönes Leben! Nein, lieber doch frei bleiben, die lieben, die uns gefallen, und jung sterben.«
»Fürchtest du denn nicht, dafür eines Tages zahlen zu müssen?«
»Nun«, antwortete sie, »statt meine Freuden mit Leid zu mischen, wird mein Leben in zwei Hälften zerteilt: eine gewiß fröhliche Jugend und ein wer weiß wie ungewisses Alter, wo ich nach Belieben leiden kann.«
»Sie hat nie geliebt«, sagte Aquilina mit dunkler Stimme. »Sie hat niemals 100 Meilen zurückgelegt, um mit tausend Wonnen einen Blick zu erhaschen und ein ›Nein‹ zu hören; sie hat ihr Leben nie an ein Haar gehängt, hat nicht soundso viele Männer niederstechen wollen, um ihren Herrn, ihren Herrscher, ihren Gott zu retten. Für sie war die Liebe ein hübscher Oberst.«
»Haha! La Rochelle!« erwiderte Euphrasie. »Die Liebe ist wie der Wind, wir wissen nicht, woher sie kommt. Im übrigen, wenn ein Tier dich sehr geliebt hätte, würdest du die vernunftbegabten Menschen verabscheuen.«
»Das Gesetz verbietet uns, Tiere zu lieben«, versetzte die große Aquilina spöttisch. »Ich glaubte, du seist nachsichtiger gegen das Militär!« rief Euphrasie lachend.
»Wie glücklich sind die Frauen, daß sie sich so ihrer Vernunft entäußern können!« rief Raphael aus.
»Glücklich?« fragte Aquilina, lächelte mitleidig und entsetzt und warf den beiden Freunden einen furchtbaren Blick zu. »Ach! ihr wißt nicht, was es heißt, mit einem Toten im Herzen zum Vergnügen verdammt zu sein.«
Wer zu diesem Zeitpunkt einen Blick in die Salons getan hätte, der hätte eine Vorstellung von Miltons Pandämonium [Fußnote: Miltons Pandämonium : Reich der bösen Geister in dem Poem »Das verlorene Paradies« (1667) des englischen Dichters John Milton (1608-1674)] bekommen. Die blauen Flammen des Punsches malten Höllenfarben auf die Gesichter derer, die noch trinken konnten. Frenetische Tänze, angepeitscht von einer wilden Besessenheit, erregtem Gelächter und Geschrei, das
a name="page82" title="ret/TS" id="page82"> losballerte wie ein Feuerwerk. Das Boudoir und ein kleiner Salon sahen aus wie ein von Toten und Sterbenden übersätes Schlachtfeld. Die Atmosphäre war vom Wein, der Lust und den vielen Worten durchglüht. Rausch, Liebe, Wahnwitz, Weltvergessenheit erfüllte die Herzen, war auf den Gesichtern und stand auf den Teppichen geschrieben, prägte das allgemeine Wirrwarr und umflorte die Blicke mit Schleiern, die in der Luft betäubende Dünste sehen ließen. Flimmernder Staub wie in den Lichtbahnen eines Sonnenstrahls hing über allem und umwölkte die absonderlichsten Formen, die groteskesten Kämpfe. Hier und da schienen Gruppen verschlungener Gestalten förmlich eins geworden mit den weißen Marmorleibern edler Kunstwerke, welche die Gemächer zierten. Obwohl die beiden Freunde in ihren Gedanken und Sinnen eine gewisse trügerische Klarheit bewahrt hatten, ein letztes Aufzucken, ein unvollkommenes Scheinbild des Lebens, war es ihnen unmöglich zu erkennen, was an den bizarren Erscheinungen wirklich, was den übernatürlichen Bildern, die unaufhörlich an ihren ermüdeten Augen vorüberzogen, möglich war. Die Schwüle, die über unseren Träumen lastet, die glutvolle Anmut, die die Gestalten in unseren Visionen gewinnen, vor allem eine sonderbare, mit Ketten beladene Leichtigkeit, kurzum, die ungewohntesten Phänomene des Schlafs stürmten so lebhaft auf sie ein, daß sie die Spiele dieser
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