Das Chagrinleder (German Edition)
Orgie für die Gaukelbilder eines Alpdrucks hielten, wo die Bewegung geräuschlos ist und die Schreie vom Ohr nicht vernommen werden. Zu diesem Zeitpunkt gelang es einem vertrauten Kammerdiener, nicht ohne Mühe, seinen Herrn in das Vorzimmer zu ziehen und ihm zuzuflüstern: »Monsieur, alle Nachbarn sind an den Fenstern und beklagen sich über den Lärm.«
»Warum lassen sie nicht Stroh vor ihre Türen legen, wenn sie Angst vor dem Lärm haben?« rief Taillefer.
Unvermittelt brach Raphael lauthals in ein so unangebrachtes Gelächter aus, daß sein Freund ihn nach der Ursache dieses brutalen Freudenausbruchs fragte.
»Du würdest mich schwerlich verstehen«, antwortete er. »Zuerst müßte ich bekennen, daß ihr mich gerade in dem Augenblick auf dem Quai Voltaire traft, als ich mich in die Seine stürzen wollte, und du würdest zweifellos die Beweggründe meines Vorhabens erfahren wollen. Aber wenn ich hinzufügte, daß sich kurz zuvor, durch einen ans Fabelhafte grenzenden Zufall, die poetischsten Trümmer der materiellen Welt vor meinen Augen zu einer symbolischen Gestalt der menschlichen Weisheit zusammenfügten, während in diesem Augenblick die Trümmer aller intellektuellen Schätze, die wir bei Tisch durcheinanderwarfen, auf diese beiden Frauen, die leibhaftigen Urbilder der Torheit, hinauslaufen; und daß unsere tiefe Unbekümmertheit um Menschen und Dinge nur als Übergang zu den farbenprächtigen Bildern zweier sich so diametral gegenüberstehenden Lebensweisen diente, würdest du davon klüger sein? Wenn du nicht so betrunken wärst, sähest du vielleicht eine philosophische Abhandlung darin.«
»Wenn du nicht beide Füße auf dieser hinreißenden Aquilina hättest, deren Schnarchen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Grollen eines nahenden Gewitters hat«, erwiderte Emile, der sich seinerseits damit vergnügte, Euphrasies Haare zusammen- und auseinanderzurollen, ohne daß ihm diese unschuldige Beschäftigung recht bewußt war, »würdest du über deine Betrunkenheit und dein Gefasel schamrot werden. Deine beiden Lebensweisen kann man mit einem einzigen Satz auf einen Nenner bringen. Das einfache mechanische Leben führt zu irgendeiner unsinnigen Weisheit, indem es unsere Intelligenz durch die Arbeit erstickt, während das Leben, das man in der Leere der Abstraktionen oder in den Abgründen der moralischen Welt verbringt, zu irgendeiner närrischen Weisheit führt. Mit einem Wort: die Gefühle töten, damit man alt wird, oder jung sterben, indem man das Martyrium der Leidenschaften auf sich nimmt, das ist unser Entweder-Oder. Allerdings ist diese Bestimmung uneins mit den Temperamenten, die uns der strenge Spaßvogel, dem wir das Muster aller Kreatur verdanken, mitgegeben hat.«
»Esel!« unterbrach ihn Raphael: »Fahre nur fort, dich selbst solcherart auf Kurzfassung zu bringen, und du füllst Bände. Wenn ich mir angemaßt hätte, diese beiden Auffassungen präzise und knapp zu formulieren, hätte ich dir gesagt, daß der Gebrauch des Verstandes den Menschen verdirbt, die Unwissenheit ihn läutert. Das heißt die Gesellschaften antasten wollen? Aber ob wir mit den Weisen leben oder mit den Narren zugrunde gehen, ist das Resultat nicht früher oder später das nämliche? Übrigens hat der Meister ausgeklügelter Quintessenzen diese beiden Systeme seinerzeit in zwei Worten ausgedrückt: Carymary, Carymara.« » [Fußnote: Carymary, Carymara «: aus dem anonymen Schwank »Meister Pierre Pathelin« (1461-1469); Zitat aus der Szene, in der Pathelin das Delirium simuliert, um den Tuchmacher zu prellen]
»Du machst mich an der Allmacht Gottes zweifeln, denn deine Dummheit übertrifft seine Allmacht«, erwiderte Émile. »Unser teurer Rabelais [Fußnote: Rabelais , François (um 1494-1553): französischer humanistischer Schriftsteller der Renaissance, Verfasser der berühmten »Gargantua« (1534) und »Pantagruel« (1532)] hat diese Philosophie durch ein kürzeres Wort als ›Carymary, Carymara‹ ausgedrückt, und zwar: ›Vielleicht‹, woher Montaigne [Fußnote: Montaigne , Michel Eyquem de (1553-1692): französischer Moralphilosoph, bekannt durch seine »Essais«] sein ›Was weiß ich?‹ nahm. Außerdem sind diese letzten Worte der Moralphilosophie nichts anderes als der Ausruf des Pyrrhon, [Fußnote: Pyrrhon (365-275 v. Chr.): griechischer Philosoph, Skeptiker, negierte die Möglichkeit der Wahrheitserkenntnis] denn er blieb zwischen Gut und Böse, wie Buridans Esel [Fußnote: Buridans Esel : Dem
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