Das Chagrinleder (German Edition)
französischen Logiker und Naturphilosophen Jean Buridan (vor 1300 – nach 1358) zugeschriebene Allegorie vom Esel, der zwischen zwei Heubündeln steht, sich weder für das eine noch für das andere entscheiden kann und deswegen verhungern muß] zwischen zwei Heuhaufen. Aber lassen wir diesen ewigen Streit, der heute doch nur auf ein Ja oder Nein hinausläuft. Welche Erfahrung wolltest du denn machen, als du in die Seine springen wolltest? Warst du auf die hydraulische Maschine des Pont Notre-Dame neidisch?«
»Ach, wenn du mein Leben kenntest.«
»Oh! ich hätte dich für weniger banal gehalten, die Phrase ist abgedroschen. Weißt du nicht, daß wir uns alle einbilden, weit mehr als die anderen zu leiden?«
»Ach!« seufzte Raphael. »Was bist du lächerlich mit deinem dauernden Ach! Was ist los? Zwingt dich eine Krankheit der Seele oder des Leibes, durch eine Muskelkontraktion alle Morgen die Pferde vorzuführen, die dich am Abend vierteilen sollen, wie dazumal Damiens? [Fußnote: Damiens , Robert-François (1715-1757): wurde nach einem Attentat auf Ludwig XV. öffentlich gefoltert und gevierteilt] Hast du deinen Hund roh und ungesalzen in deiner Dachstube verzehrt? Haben deine Kinder jemals zu dir gesagt: ›Ich habe Hunger‹? Hast du die Haare deiner Geliebten verkauft, um zum Spiel gehen zu können? Bist du jemals in eine falsche Wohnung gelaufen, um einen auf einen falschen Onkel gezogenen falschen Wechsel zu bezahlen, mit der Furcht im Nacken, zu spät zu kommen? Nun, laß hören! Wolltest du jedoch einer Frau oder eines abgewiesenen Wechsels wegen oder aus Langerweile ins Wasser gehen, so würdige ich dich keines Blickes mehr. Bekenne, lüge nicht; ich verlange keine historischen Memoiren von dir! Vor allem: sei so kurz, wie dein Rausch es erlaubt. Ich bin anspruchsvoll wie ein Leser und schläfrig wie eine Frau beim Abendgebet.«
»Armer Tor! Seit wann bestimmen die Schmerzen den Grad der Empfindsamkeit? Wenn wir in der Wissenschaft einmal so weit sein werden, eine Naturgeschichte der Herzen aufzustellen, sie zu benennen, sie in Arten, Unterarten, Familien, in Krustazeen, Fossilien, Saurier, in Kleinstlebewesen und – was weiß ich – noch alles einzuteilen, dann, lieber Freund, wird es bewiesen sein, daß es Herzen gibt, die so zart und empfindlich sind wie Blumen und gleich ihnen von einer leichten Berührung gebrochen werden können, die gewisse versteinerte Herzen nicht einmal spüren.«
»Oh! ich bitte dich, verschone mich mit deiner Vorrede«, sagte [È]mile mit einer halb lachenden, halb kläglichen Miene und faßte Raphael bei der Hand.
Die Frau ohne Herz
Nach einem kurzen Schweigen sagte Raphael leichthin: »Ich weiß wahrhaftig nicht, ob ich dem Dunst des Weins und des Punsches die Klarheit zuschreiben soll, die mich in diesem Augenblick mein ganzes Leben in einem einzigen Gemälde erschauen läßt, auf welchem die Gestalten, die Farben, die Lichter, die Schatten und Halbschatten getreulich wiedergegeben sind. Dies poetische Spiel meiner Einbildungskraft würde mich nicht in Erstaunen setzen, wenn es nicht von einer gewissen Verachtung für meine vergangenen Schmerzen und Freuden begleitet wäre. Aus der Entfernung betrachtet, ist mein Leben durch ein geistiges Phänomen wie zusammengeschrumpft. Dieser lange, schleichende Schmerz, der zehn Jahre gedauert hat, läßt sich heute durch ein paar Sätze wiedergeben, in denen der Schmerz nur noch ein Gedanke und die Freude eine philosophische Betrachtung ist. Ich urteile, statt zu empfinden...«
»Du bist langweilig wie ein Zusatzantrag, der im Parlament diskutiert wird«, warf Émile ein.
»Kann sein«, erwiderte Raphael ohne Murren; »so will ich dir, um deinen Ohren nicht allzuviel zuzumuten, die ersten siebzehn Jahre meines Lebens schenken. Bis dahin habe ich gelebt wie du, wie tausend andere, das Leben eines Schülers, dessen eingebildete Leiden und wirkliche Freuden unsere Erinnerung entzücken und nach dessen Fastenspeise unser verwöhnter Gaumen stets zurückverlangt, solange wir sie nicht von neuem genossen haben: schönes Leben, dessen Arbeiten uns verächtlich scheinen und das uns doch zu arbeiten gelehrt hat...«
»Komm zum Drama!« sagte Émile in einem halb komischen, halb klagenden Ton.
»Als ich das Collège verlassen hatte«, erwiderte Raphael und bekundete mit einer entschiedenen Handbewegung das Recht fortzufahren, »unterwarf mich mein Vater einer strengen Disziplin, er logierte mich in einem Zimmer ein, das neben
Weitere Kostenlose Bücher