Das Chagrinleder (German Edition)
müssen. Oh! selbst wenn es dich einschläfern sollte, will ich dir doch eine der schrecklichsten Freuden meines Lebens erzählen, eine jener Freuden, die sich mit Krallen in unser Herz bohren, wie ein glühendes Eisen in die Schulter eines Sträflings. Ich war auf dem Ball des Duc de Navarreins, einem Cousin meines Vaters. Damit du meine Situation völlig begreifen kannst, mußt du wissen, daß ich einen schäbigen alten Rock trug, plumpe Schuhe, eine Kutscherkrawatte und abgetragene Handschuhe. Ich hatte mich in eine Ecke gestellt, um nach Herzenslust Eis essen zu können und die hübschen Frauen anzusehen. Mein Vater entdeckte mich. Aus einem Grund, den ich niemals erraten habe, so sehr verblüffte mich dieser Vertrauensakt, gab er mir seine Börse und seine Schlüssel zum Aufbewahren. Zehn Schritte von mir entfernt spielten einige Herren. Ich hörte das Gold klingen. Ich war zwanzig und von dem Wunsch beseelt, einmal einen ganzen Tag lang den Lastern meines Alters zu huldigen. Meine Phantasie nährte Sehnsüchte, wie man ihresgleichen wohl kaum in den Gelüsten der Kurtisanen oder in den Träumen der jungen Mädchen findet. Seit einem Jahr träumte ich davon, elegant gekleidet im Wagen zu fahren, eine schöne Frau an meiner Seite, den großen Herrn zu spielen, bei Véry [Fußnote: Véry : das ›Café Véry‹, ein Pariser Restaurant im Palais-Royal, das von 1805-1845 der Familie Véry gehörte] zu dinieren, am Abend ins Schauspiel zu gehen, entschlossen, erst am nächsten Tag zu meinem Vater zurückzukehren und dann gegen ihn mit einem Abenteuer gewappnet zu sein, verwickelter als die Hochzeit des Figaro, so daß er mir unmöglich auf die Schliche kommen könnte. Dieses ganze Vergnügen hatte ich auf 50 Taler geschätzt. Stand ich nicht noch unter dem kindlichen Zauber des Schulschwänzens? Ich ging also in ein Boudoir, wo ich allein war, und zählte mit brennenden Augen und zitternden Fingern das Geld meines Vaters: 100 Taler! Von dieser Summe heraufbeschworen, umtanzten mich die Glücksbilder meines erträumten Streiches wie die Hexen Macbeths ihren Kessel, aber verlockend, berauschend, verführerisch. Ich ward zum tollkühnen Schelm. Ohne auf das Klingen in meinen Ohren noch auf das rasende Klopfen meines Herzens zu achten, nahm ich zwei 20-Francs-Stücke, die ich noch heute vor mir sehe. Ihre Jahreszahlen waren abgegriffen, und das Bild Bonapartes glotzte mir entgegen. Ich steckte die Börse in meine Tasche, trat an einen Spieltisch; die beiden Goldstücke in meiner feuchten Hand, umkreiste ich die Spieler wie ein Sperber den Hühnerstall. Von unbeschreiblichen Ängsten gepeinigt, warf ich rasch einen scharfen Blick um mich. Nachdem ich mich vergewissert hatte, von keinem meiner Bekannten bemerkt worden zu sein, setzte ich auf das Spiel eines kleinen, fetten, lustigen Mannes, auf dessen Kopf ich mehr Gebete und Gelübde häufte, als während dreier Stürme auf dem Meer zum Himmel geschickt werden. Dann pflanzte ich mich mit einem für mein Alter überraschenden Instinkt von Verruchtheit oder Machiavellismus an einer Tür auf, ließ meinen Blick durch die Salons streifen, ohne etwas darin wahrzunehmen. Meine Seele und meine Augen schwebten über dem verhängnisvollen grünen Tisch. Von jenem Abend datiert die erste physiologische Beobachtung, der ich jene eigentümliche durchdringende Geistesschärfe verdanke, die mir einige Geheimnisse unserer Doppelnatur enthüllt hat. Ich drehte dem Tisch den Rücken zu, von dem mein zukünftiges Glück abhing, ein Glück um so tiefer vielleicht, als es verbrecherisch war; zwischen den beiden Spielern und mir befand sich eine vier oder fünf Reihen dichte Mauer aus plaudernden Menschen. Stimmengemurmel verhinderte, daß man den Klang des Goldes unterscheiden konnte, der sich mit der Musik des Orchesters mischte; doch mit der den Leidenschaften eigenen Macht, Zeit und Raum aufzuheben, hörte ich allen diesen Hindernissen zum Trotz deutlich die Worte der beiden Spieler; ich kannte ihre Stiche, ich wußte, welcher von den beiden den König aufdeckte, als ob ich die Karten gesehen hätte; kurzum, zehn Schritte von dem Spiel entfernt, erbleichte ich bei seinen unvorhergesehenen Wendungen. Mein Vater ging plötzlich an mir vorbei, und da verstand ich das Wort der heiligen Schrift: »Der Geist Gottes ging an ihm vorüber!« Ich hatte gewonnen. Behend wie ein Aal, der durch die zerrissene Masche eines Netzes entkommt, schlängelte ich mich hurtig durch das die Spieler umwogende
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