Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
einen Punkt, an dem sie sich orientieren können. Eine Stadt auf einem Berg besitzt nur eine geringe Ausdehnung, und doch ist sie weithin sichtbar und strahlt auf ihre Umgebung ab, verändert sie so, wie ein bisschen Salz den Geschmack der ganzen Suppe verbessert.
Die Kerze, die Stadt, die Würze der Suppe, das sind Bilder für die weltverändernde Kraft kleiner Minderheiten. Diese Minderheiten ziehen viele Menschen an, machen sie neugierig, und etliche bleiben hängen. Bald schon werden mehrere Lichter leuchten, wo bisher nur eine Kerze brannte. Bald schon werden auf anderen Bergen Städte gebaut, die auf ihre Umgebung ausstrahlen. Bald schon wird mehr Salz zur Verfügung stehen, um größere Mengen von Suppe zu würzen. Die Sache, die klein wie ein Senfkorn angefangen hat, wird sich zu einer großen Staude auswachsen, Samen treiben und sich vermehren. Die Finsternis wird weichen. Die Welt wird sich verändern. Das Himmelreich ist gleich einem Sauerteig, den ein Weib nahm und unter drei Scheffel Mehl vermengte, bis es ganz durchsäuert ward. (Matthäus 13, 33) Eine geringe Menge genügt, um das Ganze zu verändern.
CHRISTENTUM: EINE BILANZ
Mit Abraham sind ein paar revolutionär neue Gedanken in die Welt gekommen, ein neues Welt- und Gottesbild, ein neues Menschenbild und ein tieferes Verständnis dessen, was Glaube ist. Die mit Abraham entstandenen Ideen wirken sich aus bis heute. Zusammengenommen bilden Abrahams «Innovationen» einen großen Teil des Fundaments unserer Kultur.
Als Erstes wäre da zu nennen: Die Wende zum Monotheismus bahnt sich an. Abraham selbst ist noch kein Monotheist. Er bestreitet noch nicht, wie es später seine Nachkommen, die Juden, Christen und Muslime tun werden, die Existenz der anderen Götter. Abraham kritisiert die Götter der anderen nur, wendet sich von ihnen ab, sucht nach einem besseren Gott und findet einen, der später der einzige sein wird und alle anderen Götter negiert.
Vor Abraham gab es keine falschen und wahren Götter. Jedes Volk akzeptierte die Götter der anderen Völker. Den Begriff «tolerant» auf diesen Zustand anzuwenden, wäre verfehlt. Toleranz heißt ja Duldung. Duldung von etwas, das stört. Bei den Heiden störte nichts, da gab es nichts zu dulden. Die Götter der anderen konnten nicht stören, weil man unausgesprochen davon ausging, dass es sich um dieselben Götter handelte, die nur anders benannt wurden. Es gab keinen Grund, um der Götter willen miteinander in Streit zu geraten. Es gab daher auch keinen Grund, sich mit den anderen und deren Göttern auseinanderzusetzen. Der Religionsfriede, der allenthalben herrschte, enthob die Heiden der Notwendigkeit, das Denken und die Begriffe zu schärfen. Geistig trat man ein bisschen auf der Stelle.
Dann aber, durch den sich anbahnenden Wechsel zum Monotheismus, wird das menschliche Denken plötzlich herausgefordert. Jetzt muss es ein höheres Abstraktionsniveau erklimmen. Nun wird unterschieden zwischen Wahr und Falsch, und dieses permanente Scheiden der Geister treibt das menschliche Streben nach Wahrheit und Erkenntnis auf eine unerhörte Weise voran. Erste aufklärerische Tendenzen scheinen auf, die sich noch entwickeln und verstärken werden.
Einen Nachteil hat die Sache auch. Ab jetzt ist die Gefahr von Intoleranz, Dogmatismus und Religionskriegen in der Welt. Und in dieser Hinsicht bleibt der Menschheit nichts erspart.
Zweitens: Vernunft und Glaube decken sich nicht hundertprozentig, auch wenn immer wieder das Gegenteil behauptet wurde und wird. Da steckt im Glauben ein geheimnisvoller Rest, der die Vernunft übersteigt. Dem Ungläubigen erscheint dieser Rest als exaltierte, weltfremde Radikalität und Verrücktheit, der Glaubende erkennt darin gerade die Pointe seines Glaubens – eine gefährliche Pointe, die nur einen kleinen Schritt vom religiösen Wahn entfernt liegt und von allen Sekten dieser Welt regelmäßig geplündert und missbraucht wird. Darum muss man gut hinsehen, ob es sich tatsächlich um den Glauben Abrahams handelt oder um etwas ganz anderes. Das erfordert ein genaues Unterscheidungsvermögen.
Drittens: Mit Abraham kommt ein neues Verhältnis zur Zeit in die Welt. Gott verheißt Abraham eine große Zukunft. Das ist der Beginn der Abkehr vom damals vorherrschenden heidnischen Glauben an die ewige Wiederkehr des Gleichen. Ab jetzt wird Geschichte als zielgerichtet begriffen und die Welt als etwas betrachtet, das einen Anfang und ein Ende hat.
Das Heil liegt nicht im Jenseits,
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