Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
er uns in der Bergpredigt wieder begegnet. Dazu hieß es im vorigen Kapitel: Gott will von den Angehörigen seines Volkes keine Abgaben, sondern alles, nicht allein ihre Freizeit, sondern ihre ganze Zeit, nicht nur den religiösen Teil ihrer Persönlichkeit, sondern den ganzen Menschen.
Aber das war noch nicht scharf genug formuliert. Die letzte Schärfe stellt sich ein, wenn man die Bergpredigt und die Abrahamsgeschichte zusammendenkt. Dann wird nämlich klar, dass Gott etwas von uns verlangt, das uns aufgeklärten Menschen am kostbarsten erscheint: unsere Autonomie. Er fordert uns auf, darauf zu verzichten, unser Schicksal selbst zu bestimmen.
Preisgabe der Autonomie wird verlangt. Bereitschaft zur Fremdbestimmung. Gläubige Unterordnung unter Gottes fremden und nicht selten befremdenden Willen aus Freiheit – das ist die Crux des Glaubens, die sich von Anfang an im Gebot der Beschneidung manifestiert. Die von Gott angeordnete Beschneidung des Symbols der Fruchtbarkeit und der Macht, das Zeichen des Bundes zwischen Gott und seinem Volk, bedeutet: Ich, Gott, bin der Herr über deine Fruchtbarkeit, deine Triebe und überhaupt alles in der Welt. Deine Rechte sind beschnitten, dein Wille hat sich dem meinigen unterzuordnen.
Gehorsam, Unterordnung, Fremdbestimmung, Unterwerfung – es sind schreckliche Wörter. Sie klingen uns schrill in den Ohren, auch verdächtig, zum Missbrauch verführend, zur Rechtfertigung grausamster Taten einladend, und all das hat es im Verlauf der weiteren Geschichte tatsächlich zur Genüge gegeben. Deshalb, und aus anderen vernünftigen Gründen, wehren wir uns heute gegen Fremdbestimmung und Unterwerfung, auch gegen den Gehorsam vor Gott, weil es ja doch letztlich fehlbare Menschen – Päpste, Bischöfe, Professoren, Priester und sonstige Autoritäten – sind, die vorgeben, den Willen Gottes zu kennen und unsere Bereitschaft zur Unterordnung nur für eigene Zwecke missbrauchen.
Jedoch: Die gesamte Bibel redet davon, dass die Erfahrung des Glaubens eine andere ist. Wer sich ganz an Gott bindet, steht der Welt wahrhaftig frei gegenüber. Wer Gott fürchtet, muss sich vor nichts mehr fürchten, ist stärker als alle Armeen dieser Welt zusammen und wird Tod und Teufel trotzen. Wer sich allein unter Gottes Willen stellt, dem hat kein irdischer Wille mehr irgendetwas zu befehlen, und mag sich dieser Wille noch so mächtig und toll gebärden. Er zerschellt am Glaubenden. Wer sein Herz an Gott hängt, braucht es nicht an materielle Güter zu hängen. Und dort, wo sich ein Gottesfürchtiger mit anderen Gottesfürchtigen zusammentut, um Gottes Willen auf Erden Geltung zu verschaffen, wird die Welt auf den Kopf gestellt, werden die Kranken gesund, die Blinden sehend, die Hungrigen satt, die Traurigen fröhlich, die Schwachen stark. Aber diese Erfahrung macht eben nur, wer das Wagnis des Glaubens riskiert und sich ehrlich und ernsthaft darauf einlässt.
Totale Unterwerfung unter die Herrschaft Gottes, diese erschreckende Forderung endet in der Erfahrung, dass gerade aus diesem Verzicht auf Selbstbestimmung die größtmögliche Freiheit erwächst und sich die Welt unter Gottes Willen zu etwas fügt, das kein menschlicher Wille besser hätte fügen können. Der jüdisch-christliche Reich-Gottes-Totalitarismus ist, recht verstanden, das einzig wirksame Rezept gegen die irdisch-menschlichen Totalitarismen auf der Welt. Deshalb muss Gott so radikal sein.
Nur wenn er genügend Freiwillige hat, die sich auf seine ungeheure Forderung einlassen, kann sein Plan gelingen. Weil aber diese Forderung so groß ist und die menschliche Bereitschaft, ihr zu entsprechen, so klein, harrt Gottes Plan bis heute seiner Erfüllung. Der Mensch glaubt nicht, dass er das Leben gewinnt, wenn er’s drangibt. Daran scheitert Gottes Utopie.
Schlimmer noch: Weil wir nicht nur das Opfer verweigern, sondern schon bei viel harmloseren Forderungen versagen, leben wir immer näher an der Hölle als am Himmel, und manchmal geraten wir richtig in die Hölle hinein, so zum Beispiel zwischen den Jahren 1933 und 1945.
Hitler wäre nie an die Macht gekommen, wenn zwischen den Jahren 1918 und 1933 nur zehn Prozent der Christen entschlossen und energisch gegen Nationalismus, Militarismus und Antisemitismus protestiert hätten. Niemand hätte um seine Karriere fürchten müssen oder wäre ins Gefängnis gekommen, wenn ein Zehntel der deutschen Christenheit zusammengehalten und Widerstand geleistet hätte. Sie haben es nicht getan, und
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