Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
undemokratischen, korrupten Staaten, in der Mafia und in Diktaturen wird noch heute so gelebt.
Der christliche Glaube riss diese Clangrenzen nieder und bereitete damit dem Rechtsstaat und dem Prinzip der Weltverantwortung den Weg. Ein Leib aus vielen Gliedern, das hieß: Die verschiedenen Clans, Stämme, Völker und Nationen können zu einer einzigen großen Völkerfamilie zusammenwachsen. Die Verschiedenheit der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts und des Alters trennen nicht mehr, müssen keinen Anlass mehr bieten für kriegerische Auseinandersetzungen. Weltfrieden wird möglich, sofern da tatsächlich ein Leib am Werk ist, also kein Verein, keine Organisation, keine Institution, sondern etwas Lebendiges, das wachsen kann. Wann immer dieser Leib richtig funktioniert, macht die Menschheit einen großen Sprung nach vorn in ihrer Entwicklung.
Es wäre kühn zu behaupten, aus jüdisch-christlichen Urelementen habe mit naturgesetzlicher Notwendigkeit jene westliche Gegenwart entstehen müssen, in der wir nun leben. Das Neue, das mit Abraham in die Welt kam und von Jesus weitergeführt wurde, hätte allein, für sich genommen, kaum ausgereicht, um die europäische Kultur hervorzubringen. Dazu bedurfte es schon auch noch der Griechen und Römer und vor allem des christlichen Versuchs, den jüdisch-christlichen Glauben mit der griechischen Philosophie und dem römischen Recht zu verschmelzen.
Alle Elemente zusammen jedoch – die jüdischen, die christlichen, die griechischen und die römischen – führten zu etwas Neuem, das keines dieser Elemente allein aus sich heraus hätte zustande bringen können: zu Europa. Europa ist das Ergebnis der Synergie aus jüdischem, christlichem, griechischem und römischem Denken. Diese vier Traditionen waren nötig, um eine neue Dynamik in die Welt zu bringen, eine Dynamik, die die Entwicklung zunächst sehr langsam, aber stetig vorantrieb und ab dem 15. Jahrhundert nach Christus ganz ungeheuer beschleunigte.
Zu jener Zeit war die islamische Kultur der christlichen wissenschaftlich, technisch und gesellschaftlich überlegen. Aber dann stockte die Entwicklung in der islamischen Welt, während sich die christliche revolutionär veränderte und an der islamischen vorbeizog. Die christlichen Werte traten den Siegeszug an.
Der lange Zeit verschüttete jüdisch-christliche Drang zu Wahrheit und Aufklärung und das kritische Bewusstsein von Abraham, Mose und den Propheten brechen jetzt durch und erregen zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Gemüter. Die Menschen saugen begierig das Gerücht auf, dass sich die Erde nicht, wie seit mehr als tausend Jahren von der Kirche behauptet, im Mittelpunkt des Weltalls befindet, sondern um die Sonne dreht. Und die Menschen fragen sich: Wenn das mit der Erde und der Sonne nicht stimmt, wer weiß, ob dann alles andere, was man uns so erzählt, noch stimmt? Man sollte alles auf den Prüfstand stellen. Und das geschieht.
Christoph Kolumbus bricht auf, um einen neuen Seeweg nach Indien zu erkunden, entdeckt stattdessen einen neuen Kontinent; plötzlich segeln Europäer über alle Weltmeere, vermessen die Erde und setzen eine Entwicklung in Gang, deren vorläufigen Höhepunkt die Landung der ersten Menschen auf dem Mond darstellt. Ein Nürnberger Maler, Albrecht Dürer, hört auf, Bibel- und Heiligengeschichten zu illustrieren, und fängt an, sich selbst zu porträtieren. Der Mensch entdeckt sich als Individuum.
Johannes Gutenberg erfindet den Buchdruck und ermöglicht die beschleunigte Verbreitung von Gedanken und Wissen. Die Zeit der Massenmedien beginnt, und ein kleiner thüringischer Mönch namens Martin Luther nutzt sie, um seine ketzerischen Gedanken über Papst und Kirche zu verbreiten, bricht damit die absolute Herrschaft der Kirche und erschüttert deren Grundfesten so nachhaltig, dass sie ihre Allmacht auf immer verliert. Die Priesterherrschaft wird beendet, der Klerus abgewertet, die Laien und die weltlichen Berufe werden aufgewertet.
Alles, was ab jetzt passiert, passiert meistens gegen den Willen und Widerstand der Kirche. Das kritisch-aufklärerische Potenzial des jüdisch-christlichen Glaubens beginnt, sich gegen die Institution dieses Glaubens zu richten. Universitäten werden gegründet, große Bibliotheken entstehen, zwar oft noch mit kirchlichem Segen und unter kirchlicher Oberaufsicht. Aber seit Luther gibt es zwei Wahrheiten, zwei Kirchen, und es kann doch nur eine recht haben.
Daher wird nun in typisch menschlicher Manier
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