Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
Abraham und die anderen hätten Gottes Ruf vernommen. Und überlassen es der Fantasie ihrer Zuhörer, sich dabei irgendetwas vorzustellen. Danach streben die Theologen rasch aus dem verminten Gelände ins sichere Gebiet ihrer Gelehrsamkeit, von wo aus sie den biblischen Text in seine verschiedenen Schichten zerlegen, ausführlich über die Entwicklung des Begriffs der Offenbarung dozieren und die Sache so gründlich in religionsgeschichtliche, alttestamentliche, jüdische, neutestamentliche, christliche und christologisch-dogmatische Aspekte zerpflücken, bis ihre Zuhörer alles wissen, was sie nie wissen wollten, und ihre ursprüngliche Frage vergessen haben.
Was also machen wir mit dem Und Gott sprach zu Abraham ? Nehmen wir einmal an, es sei alles ganz natürlich zugegangen, Abraham habe keine Stimme aus dem Off und auch sonst nichts vernommen. Warum ist er dann aus seiner Heimat fortgegangen und hat seinen Nachkommen seltsam unbestimmte Geschichten von einem neuen seltsam unbekannten Gott hinterlassen? Kann Abrahams Handeln ohne die Hypothese Gott erklärt werden? Kann Abraham heute noch religiösen Skeptikern nahegebracht werden, für die Gott nur ein Wort für etwas ist, über das man nichts wissen kann?
Ja, das geht. Man kann Abraham auch ohne den Rückgriff auf eine akustisch vernehmbare göttliche Stimme erklären und begründen, warum dieser orientalische Ziegenhirt selbst dann eine zentral wichtige Figur des Abendlands bliebe, wenn es Gott nicht gäbe.
Abraham – egal ob als literarische Figur oder historische Person – lebte zwischen 2000 und 1800 vor Christus in der sehr alten Kulturlandschaft Mesopotamiens. Das Rad war schon seit dreitausend Jahren erfunden, ebenso der Pflug, von Ochsen gezogen. Seit dreieinhalb Jahrtausenden beherrschten und verfeinerten die sesshaften Bauern Mesopotamiens die Bewässerungstechnik. Seit zweitausend Jahren wurde Wein angebaut. Seit eintausendachthundert Jahren kannte man die Schrift, konnte man rechnen, messen, wiegen, sich an den Sternen orientieren. Zuweilen trieb Abraham seine Kühe, Schafe, Ziegen und Esel an Tempelruinen vorbei, die damals schon so alt waren wie die griechisch-römischen Ruinen heute.
Sumerer, Ägypter, Babylonier, Assyrer und Hethiter hatten in dieser Landschaft ihre Spuren hinterlassen. Große Reiche, Feldherren und Könige hatte das Land schon aufsteigen und wieder untergehen sehen, die verschiedensten Götterkulte erlebt und im Lauf der Zeit einen großen Schatz von Mythen, mündlichen und schriftlichen Erzählungen, Dichtungen, Gesetzestexten und religiösen Riten angesammelt. Abraham war weder Priester noch Schriftgelehrter und kannte daher vermutlich nur einen Bruchteil davon, hatte aber aus seinem kulturellen Umfeld genug aufgesogen, um sich eigene Gedanken zu machen, Antworten zu suchen auf Fragen, die ihn ein Leben lang beschäftigten.
Als Halbnomade, der am Rande der großen Stadt lebte, nicht mehr ganz zu den Nomaden gehörte, aber auch noch nicht richtig zu den Sesshaften, der immer pendelte zwischen der Stadt und der Weide, der Kulturlandschaft und der Wüste, hatte er Distanz zu beiden Lebensweisen. Dieser Abstand ermöglichte ihm vielleicht eine bessere Wahrnehmung des Ganzen, einen schärferen Blick auf die Realität, als man ihn hat, wenn man irgendwo mit Haut und Haar dazugehört und mitten im Getümmel steckt.
Abrahams distanzierter Blick auf seine Welt mündete in ein großes Unbehagen, das Gefühl, dass irgendetwas seit urdenklichen Zeiten gründlich schiefläuft. Herrschen oder Beherrschtwerden, Hammer oder Amboss sein, der Mensch als des Menschen Wolf, dies scheint seit Urzeiten das Gesetz des Lebens auf diesem Planeten zu sein. Gibt es keine Alternative dazu? Nichts Drittes? Warum können Menschen nicht dauerhaft in Frieden miteinander leben? Warum beginnen so viele Geschichten verheißungsvoll und enden in Rivalität, Lüge, Betrug, Hass, Neid, Missgunst, Raub, Vergewaltigung, Mord und Totschlag? Warum lebt der eine gesund in Reichtum und Überfluss, während der andere arm und krank in Not und Elend vor sich hin vegetiert?
Könige garantieren Ordnung, schützen den Schwachen vor dem Starken, aber lassen sich das teuer bezahlen, manchmal so teuer, dass es für den Unterdrückten und Ausgebeuteten keinen Unterschied mehr macht, ob er von einem König, einem Despoten oder einfach nur einem Unbekannten ausgebeutet oder ausgeraubt wird. Könige führen Kriege, um Land zu erobern, bauen Reiche auf und Weltreiche, und
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