Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
dem wahren Gott und einer realistischen Erkenntnis der Zusammenhänge auf der Welt, also die Suche nach Wahrheit, das war es, was ihn umgetrieben hat. Seine damit demonstrierte Götterkritik und seine Ablehnung des damals offiziell gelehrten Weltbilds waren letztlich eine schärfere Form von Rebellion und ein tieferer Protest als jeder gewaltsame Aufstand.
Wenn es Gott wirklich geben sollte, dann muss damals der Himmel jubiliert, dann muss Gott seinen Engeln zugerufen haben: Wir haben ihn! Der Mensch, auf den ich seit Jahrtausenden warte, ist da, Abraham! Mit ihm wird es mir vielleicht gelingen, die Welt aus den Angeln zu heben. Er wird mein archimedischer Punkt sein.
Und dann wird Gott mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Kontakt aufgenommen haben zu diesem Abraham, wie auch immer das zugegangen sein mag. Wahrscheinlich hatte er schon vorher versucht, Abrahams Denken zu beeinflussen, und nicht nur dessen Denken, sondern das aller Menschen, und Abraham war der Erste, bei dem Gott Erfolg hatte. So könnte man sich Abrahams Rolle erklären, wenn man glauben könnte.
Und was, wenn nicht? Was ist, wenn es Gott nicht gibt, niemals gegeben hat, wenn der jüdische und der christliche Glaube und überhaupt jede Religion nur überwundene Denkvorstellungen sind aus einer Zeit, in der sich die Menschen entwicklungsgeschichtlich noch in einer Art Kindheitsstadium befunden haben? Dann, so meinen viele Zeitgenossen, müssen wir diese Geschichte ins Museum stellen. Und da steht sie ja auch. Aber da gehört sie nicht hin. Die Gründe stehen im nächsten Kapitel.
GOTTES ARCHIMEDISCHER PUNKT
Und Gott sprach zu Abraham … – das wird erzählt, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, dass da einer plötzlich aus heiterem Himmel von der Seite angesprochen wird und feststellt: Hey, es ist ja Gott, der mit mir spricht! Gott höchstselbst greift sich aus den Millionen der damals lebenden Menschen einen einzelnen heraus und verkündet, Großes mit ihm vorzuhaben.
Eigentlich erwartet man, dass Abraham sich nun zitternd vor Furcht und Schrecken auf den Boden wirft oder zumindest wahnsinnig überrascht ist oder wenigstens ein paar erstaunte Fragen stellt. Auch ein bisschen Donner, Blitz und Hagel, ein kleines Erdbeben und himmlisches Feuerwerk hielten wir für angebracht angesichts der Tatsache, dass im weiteren Verlauf drei Weltreligionen gegründet werden, die es heute noch gibt und die zusammen mehr als drei Milliarden Anhänger haben.
Anschließend, erwartet unsereins, werden wir Zeuge eines längeren, mit großem Pathos erzählten Gesprächs zwischen Gott und Abraham. Gott erklärt sich, schildert Abraham, was er vorhat, warum er seinen Plan ausgerechnet mit Abraham zu realisieren gedenkt, klärt ihn auf über die Welt und die Nichtigkeit der falschen Götter. Abraham hat tausend Fragen. Ein paar Fanfarenklänge, Trompetenstöße, feierliche Sphärenklänge, wie man sie im Fernsehen hört, wenn über uralte Zeiten berichtet wird, hätten das feierlich Erzählte zu untermalen.
Nichts dergleichen geschieht. Es geht seltsam unfeierlich zu bei diesem ersten Kontakt zwischen Gott und Mensch. Stattdessen zieht da einfach ein alter Nomade mit seinem Vieh kreuz und quer durch Mesopotamien, und es ereignet sich nichts Besonderes. Im Verlauf eines Vierteljahrhunderts ergeht ein paar Mal die Anrede Gottes an Abraham, immer seltsam wortkarg, meistens beschränkt auf die Wiederholung der einmal gegebenen Verheißung. Abraham hört es sich schweigend an.
Einmal, ein einziges Mal, redet er, als Gott ihm mitteilt, die Sündenstädte Sodom und Gomorrha vernichten zu wollen. Hier fragt Abraham plötzlich ganz kritisch zurück: Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? (1 Mose 18, 23) Und ob Gott denn bereit sei, die Stadt zu verschonen, wenn sich fünfzig Gerechte darin fänden? Oder vierzig, dreißig, zwanzig? Gott antwortet jedes Mal mit Ja, und Abraham handelt ihn schließlich bis auf zehn herunter. Aber es finden sich noch nicht einmal zehn Gerechte in der Stadt, und damit ist ihr Untergang besiegelt, auch Abraham kann ihn nicht verhindern.
Ansonsten aber herrscht zwischen Gott und Abraham ein Schweigen der Männer, wie wir es eigentlich nur von Western-Klassikern gewohnt sind und dort auch schätzen, aber hier, in den sowieso schon ziemlich sperrigen Geschichten über Abraham nervt es den Durchschnittszeitgenossen des 21. Jahrhunderts. Ungeduldig wartet er auf die Erfüllung der großen Versprechen,
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