Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
Rüdiger Safranski es einmal ausgedrückt hat, als «erster Faschist», als Stammvater des Totalitarismus – und seit der Zerstörung des World Trade Center in New York am 11. September 2001 auch als Stammvater der fanatischen islamistischen Terroristen. Sie scheinen aus demselben Holz geschnitzt zu sein wie Abraham. Und ausgerechnet so einen macht Gott zum Stammvater der Juden, Christen und Muslime. Warum nur? Wir müssen noch einen langen Weg gehen, um die Antwort auf diese Frage zu verstehen (siehe Kapitel «Alles oder nichts und das Gesetz der kleinen Zahl», S. 249 ff.).
Vor dieser Frage verblasst auch das dritte Rätsel der Abrahamsgeschichten: Sie beginnen mit einem grandiosen Versprechen – Nachkommen wie Sterne am Himmel, und das ganze Land Kanaan dazu. Als aber Sara stirbt, hat Abraham nur Isaak und nennt keinen einzigen Quadratmeter Land sein Eigen. Um Sara zu begraben, muss er von einer kanaanitischen Familie für vierhundert Lot Silber einen Acker kaufen mit einer Höhle darin für Saras Grab (1 Mose 23, 17).
Danach heiratet Abraham noch einmal. Ketura heißt seine zweite Frau, und mit ihr bekommt er weitere sechs Söhne. Aber nur Isaak, der Sohn, den er von Sara hat, ist Träger des göttlichen Segens. Die anderen werden für die Juden und Christen so unwichtig wie Ismael.
Als Abraham stirbt, wird er in Saras Grab beigesetzt. Mehr als dieses Grab, den einen Acker und seine Viehherden hat Abraham seinem Sohn Isaak, dem Träger des göttlichen Segens, nicht zu vererben. Auch sonst hinterlässt Abraham nichts, woran sich seine Nachkommen halten könnten, keine Anweisungen fürs tägliche Leben, keine zitierbaren Sprüche, kein Gesetz, keine Regel, kein Heiligtum, keinen Tempel, das alles kommt erst sehr viel später. Abraham bleibt uns erhalten als der erste Mensch, dem sich Gott offenbarte. Das muss offenbar genügen.
Abraham ist der Stammvater des Glaubens dreier Weltreligionen, aber worin sein Glaube eigentlich besteht und was seine Wahrheit ist, erfahren wir nicht.
DER ERSTE SYSTEMKRITIKER
Und Gott sprach zu Abraham – das steht einfach so in der Bibel. Aber wie ist es dabei eigentlich zugegangen? Abraham, oder wer auch immer später den anderen erstmals von diesem Gott erzählte, wird ja wohl kaum eine geheimnisvoll raunende Stimme aus dem Off gehört haben. Er wird es vermutlich auch nicht bloß geträumt haben, und wenn er eine Vision gehabt haben sollte, so kann das, werden Skeptiker einwenden, auch die pure Einbildung oder das Hirngespinst eines von einem religiösen Wahn Befallenen gewesen sein.
Naiv Gläubige antworten darauf mit schwer zu widerlegender Stringenz: Wo ist das Problem? Wenn in der Bibel steht, Gott habe zu Abraham gesprochen, dann hat er eben zu Abraham gesprochen, und dass Gott heute offenbar nicht mehr akustisch hörbar zu Menschen spricht, ist kein Beweis dafür, dass er es damals nicht getan hat. Er sprach eben nur ein Mal, vor rund vier Jahrtausenden. Es muss uns nun genügen, dass diese Geschichte seitdem bis auf den heutigen Tag immer weiter erzählt wird.
Die Theologen und Schriftgelehrten, obwohl offen oder insgeheim davon überzeugt, dass es auch zu Abrahams Zeiten schon ganz natürlich zuging auf der Erde und Abraham keine Stimme aus dem Off gehört hat, vermeiden konkrete Aussagen. Lieber lenken sie den Blick auf Jakob und Mose, denen sich Gott ebenfalls – wie auch immer – offenbart hatte, und zu guter Letzt auf Jesus, durch den Gott uns seinen eigenen Sohn geschickt hat und den er für uns hat sterben lassen, was ja wohl unter allen denkbaren Formen der göttlichen Ansprache an die Menschen die stärkste sei.
Dass auch diese Argumentation bereits Glauben voraussetzt, zumindest die Bereitschaft, das Verhältnis Jesu zu seinem Gott als Sohnschaft und sein Sterben als Sterben für uns zu deuten, wird dabei gern unterschlagen. Aus der Bedingung des Glaubens, ein bestimmtes Geschehen als Handeln Gottes zu interpretieren, führt das nicht heraus, und letztlich mündet alle Theologie dann doch wieder in einen Satz, den die naiv Gläubigen auch unterschreiben können: Abraham, Isaak, Jakob, Mose, die Propheten und Jesus glaubten Gott, und darum können wir ihnen auch glauben. Oder müssen. Oder sollen.
Wenn wir dann aber fragen, warum wir glauben sollen und wie es denn bei den jeweiligen Gottes-Offenbarungen oder -Erscheinungen wirklich zugegangen sei, weichen die Theologen einer Antwort weiträumig aus und streben in die unverbindliche Metapher,
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