Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
bisheriges Leben bedacht, sich Gedanken über die Zukunft gemacht, neue Hoffnung geschöpft und dann, am Ende dieses langen Sinnierens hatte er plötzlich etwas begriffen: den Abraham-Code. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben hatte er verstanden, was seinen Vater und seinen Großvater ein Leben lang umgetrieben hat: dieser neu entdeckte Gott, über den sie wenig gesprochen, aber durch ihr Tun und ihr Leben indirekt doch viel erzählt hatten. Vielleicht hat er erkannt: Den Glauben seiner Väter zu übernehmen und weiterzugeben, ist jetzt seine wichtigste Aufgabe in der Zukunft. Dieser Glaube der Väter, ihr Gehorsam gegenüber ihrem Gott, ist der Garant des Gelingens.
Danach wird er Reue gegenüber Esau empfunden und gewusst haben, wie er seinem Bruder begegnen muss. Daraus wird er die Zuversicht geschöpft haben, dass, wenn er das Seine beiträgt, Gott den Rest erledigen und es so fügen wird, dass seine Versöhnung mit Esau gelingt.
Und so begegnet er am folgenden Tag erstmals nach Jahrzehnten wieder seinem Bruder Esau, verneigt sich vor dem ums Erstgeburtsrecht Geprellten bis in den Staub und sagt: Ich habe dein Angesicht gesehen, wie man das Angesicht Gottes sieht. (1 Mose 33, 10) Jetzt erst ist Jakob der Dritte im Bunde der Erzväter. Jetzt bekommt der neue Gott, der noch keinen Namen und noch kein Alleinstellungsmerkmal hat, den vorläufigen Namen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs .
Im Augenblick des Verneigens vor dem anderen und der Demut ihm gegenüber leuchtet im Antlitz des gefürchteten Todfeindes das Antlitz Gottes auf. Jakob entdeckte auf diese Weise, wie sehr sich Gott vom Menschen unterscheidet. Was Nächsten- und Feindesliebe bedeutet, hat Jakob im Ernstfall begreifen gelernt. Der Kampf Jakobs mit seinem eigenen Gewissen, seinem Herzen im Hinblick auf die anstehende Versöhnung mit seinem Bruder erscheint als Kampf Gottes mit der Stärke Jakobs. Denn Jakob kann nur zum Gottesstreiter werden – diesen Namen erhält er nach dem Kampf –, wenn er nicht auf seine eigene Stärke baut, sondern seine Schwäche preisgibt und sie von Gott in Stärke verwandeln lässt. Nur über diese Preisgabe an das geschichtliche Handeln Gottes wird Israel fähig, Frieden zu stiften. 12
Mit Jakob, dem Letzten im Dreierbund, nimmt jetzt auch die göttliche Verheißung einer großen Nachkommenschaft einen ersten Aufschwung. Zwölf Söhne von vier Frauen werden Jakob geboren. Die Söhne Leas waren diese: Ruben, der erstgeborene Sohn Jakobs, Simeon, Levi, Juda, Isaschar und Sebulon; die Söhne Rahels waren: Joseph und Benjamin; die Söhne Bilhas, Rahels Magd: Dan und Naphthali; die Söhne Silpas, Leas Magd: Gad und Asser. Das sind die Söhne Jakobs, die ihm geboren sind in Mesopotamien . (1 Mose 35, 23–26) Es sind die Söhne, aus denen die zwölf Stämme Israels hervorgehen werden.
Land ist allerdings immer noch nicht in Sicht. Einen Acker vor der Stadt Sichem im Lande Kanaan kauft sich Jakob für hundert Groschen, baut sich darauf eine Hütte und errichtet dort einen Altar für den Gott seiner Väter. Das ist vorläufig alles. Das Volk Gottes hat noch nicht einmal das embryonale Stadium erreicht. Es keimt nur etwas, aber immerhin: Es keimt ordnungsgemäß, man liegt im Plan, und zwölf Söhne sind ja schon, gemessen am Anfang, ganz beeindruckend.
Die zwölf Nachkommen Jakobs werden sich vermehren, aber Kanaan wird ihnen und ihren Nachkommen noch lange nicht gehören. Sie müssen erst noch eine wichtige Lektion lernen, diese Lektion heißt Ägypten, und der Weg dorthin ist steinig.
JOSEF UND SEINE BRÜDER: ISRAELS EINTRITT IN DIE GESCHICHTE
Das erste Buch Mose endet mit einer der berühmtesten Erzählungen der Bibel: der Geschichte von Josef und seinen Brüdern. Darin wird erklärt, wie die Nachfahren Abrahams, Isaaks und Jakobs nach Ägypten gekommen und dort zu einem großen Volk herangewachsen sind.
Hier nun, in Ägypten, und später in der Wüste, ereignet sich die eigentliche Geschichte, die wirkliche Religionsgründung, zu der die Abraham-Mythen nur das Vorspiel bilden. In Ägypten tritt das Volk Israel mit seinem Gott erstmals aus dem reinen Mythos heraus und als historisch nachweislich existentes Volk in die Geschichte ein. Ab jetzt haben wir es mit Erzählungen zu tun, für die es gelegentlich auch Anhaltspunkte in der historischen Wirklichkeit gibt, und mit Jakobs Söhnen, besonders Josef, gleiten wir in diesen Übergang zwischen Mythos und Geschichte hinein.
Josef ist Jakobs Lieblingssohn.
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